Am 29. Mai 2023 verstarb in Florida im Alter von 89 Jahren der Völker- und Menschenrechtler Thomas Buergenthal. Wer je das Privileg hatte, ihn persönlich zu erleben, weiß, dass damit ein glückliches Leben zu Ende ging, und das, obwohl Buergenthal in diesem Leben mit dem Schlimmsten konfrontiert war, was Menschen begegnen kann.
In der Geschichte der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Name Thomas Buergenthal an herausragender Stelle verzeichnet. Als der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof 1988 sein erstes Urteil (Velásquez-Rodríguez v. Honduras) veröffentlichte, in dem er nicht nur erstmals das Recht nicht „verschwunden zu werden“ entwickelte, sondern grundsätzlich den Weg für eine wirkungsvolle Verteidigung der Menschenrechte vor internationalen Instanzen prägte, war Thomas Buergenthal einer der sieben Richter, die dieses bahnbrechende Urteil schrieben. Dass es dazu kommen konnte, ist im Rückblick höchst erstaunlich. Thomas Buergenthal ist bis heute der einzige US-Bürger, der je diesem Gericht angehörte, denn die USA haben den Gerichtshof nie anerkannt. Sein Wahl als einer der Gründungsrichter kann nur als außergewöhnliche Anerkennung seiner bis dahin als Menschenrechtsjurist in den USA erworbenen Verdienste verstanden werden, wie sie sich z.B. in einem der frühesten Lehrbücher über das Sachgebiet Menschenrechte (International Human Rights in a Nutshell) niederschlugen, das damals noch kaum Gegenstand systematischer Lehre war, wie Buergenthal in seinem Vorwort konstatierte. Bis heute ist es ein in zahlreichen erweiterten Neuauflagen erhältliches Standardwerk. Als Buergenthal sein Amt als Richter am Sitz des Gerichts in Costa Rica antrat, initiierte er zugleich die Gründung des am Gericht ansässigen Interamerikanischen Instituts für Menschenrechte, einer wichtigen Forschungs- und Bildungseinrichtung.
Ein paar Jahre später war Buergenthal wieder an einem Meilenstein der Menschenrechtsarbeit beteiligt. Die UNO ernannte ihn zu einem der drei Leiter der Wahrheitskommission, die nach dem Ende des Bürgerkriegs in El Salvador die Verbrechen der Vergangenheit aufarbeiten sollte. Unter dem Titel „Vom Wahnsinn zur Hoffnung“ wurde der Bericht 1992 veröffentlicht und zeichnet sich bis heute vor allem durch seine außergewöhnlich differenzierten und detaillierten Empfehlungen aus, um ähnliche Verbrechen in Zukunft zu verhindern.
Das also war der Thomas Buergenthal, den ich kannte, als 2007 das Buch Ein Glückskind – Wie ein kleiner Junge zwei Ghettos, Auschwitz und den Todesmarsch überlebte und ein zweites Leben fand erschien, und zwar auf Deutsch (erst zwei Jahre später erschien es auch im originalen Englisch und inzwischen in weiteren Sprachen). Die Lektüre war in vieler Hinsicht ein Schock. Wegen der unglaublichen Dramen, die der kleine Tommy im Ghetto und den Lagern Auschwitz und Sachsenhausen durchleben musste, ehe er als Elfjähriger befreit wurde und dann noch die Todesmärsche und Wirren der letzten Kriegsmonate überlebte, die ihn u.a. zwei erfrorene Zehen kosteten. Schockierend war für mich aber auch, dass ich von dieser Überlebensgeschichte bis dahin nichts wusste. Buergenthal hat im Vorwort des Buches und auch in Gesprächen erklärt, dass er sich keineswegs zu den Holocaustüberlebenden zählte, die über ihre Erlebnisse schweigen wollten, er sei einfach nicht dringlich gefragt worden, sodass er sich erst im hohen Alter entschloss, seine Überlebensgeschichte, die mit der Auswanderung in die USA endet, zu erzählen. Seine KollegInnen in Costa Rica und anderswo haben wohl zumindest eine ungefähre Vorstellung von seiner Lebensgeschichte gehabt, aber weder sie noch Buergenthal hielten es offenbar für angemessen, das publik zu machen – vielleicht um zu demonstrieren, dass persönliche Schicksale keine Qualifikation für professionelle Menschenrechtsarbeit darstellen. So fanden das Glückskind Tommy und der gelehrte Menschenrechtsprofessor und aktive Gestalter des internationalen Menschenrechtsschutzsystems erst spät in der Öffentlichkeit zusammen. Bei aller Zurückhaltung war es für Buergenthal aber doch klar, dass auch die Schreckenserfahrung des Nationalsozialismus und die der Menschen, die in unterschiedlicher Weise zu seiner Rettung beitrugen, seine Arbeit als international tätiger Menschenrechtler prägten, denn er wusste „auch gefühlsmäßig, was es heißt, ein Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu sein,” wie er in Ein Glückskind schrieb und wie es gewiss die Menschen erlebten, auch ohne um seine Vergangenheit zu wissen.
Einblicke in Buergenthals Leben insgesamt, in dem die von seine Erfahrung der Schrecken des Nationalsozialismus geprägte tiefe Humanität ebenso wie seine professionellen Leistungen sichtbar werden, gibt ein Film der International Nuremberg Principles Academy, zu deren Kuratorium Buergenthal bis vor wenigen Jahren, zeitweise als Präsident, gehörte. Ein ausführliches lebensgeschichtliches Interview haben 2015 Claus Kreß und Daniel Stahl mit Buergenthal geführt.
Titelbild: Thomas Buergenthal im August 2012 im Memorium Nürnberg; Foto von Rainer Huhle.