Oder: Wie die Corona-Krise auch für gute Nachrichten sorgen kann … oder?
by Lisa Halbig –
Wenn man in der Nürnberger Innenstadt die Pfarrgasse an der Pegnitz entlang geht, so passiert man erst einige exklusivere Geschäfte, bevor man dann auf harten Kontrast trifft. In die Ecke gedrückt, aber noch überdacht findet man ein Lager aus Decken, alten Matratzen und einigen kleineren Gegenständen. Bis November 2020 war es das „Wohnzimmer“ von Jacky, ihrem Freund Andi und der gemeinsamen Hundedame Mutzi, die vor 3 Jahren obdachlos geworden sind und sich hier eingerichtet hatten. Auch wenn es immer wieder zu Ärger mit den anliegenden Geschäften kam, war das ihr Zuhause. Bis ein Artikel in den Nürnberger Nachrichten die entscheidende Wendung brachte, doch dazu später mehr.
Wieso wird jemand obdachlos?
In den letzten Jahren ist die Zahl derer, die keine eigene Wohnung haben, in ganz Deutschland rasant gestiegen. Aktuelle Schätzungen liegen bei 678.000 wohnungslosen Menschen, nur fünf Jahre vorher lag die Schätzung bei 335.000. Dabei muss unterschieden werden zwischen Menschen, die zwar wohnungslos sind, aber z.B. in Herbergen, bei Verwandten oder bei Freunden unterkommen, und denen, die keine dauerhafte Unterkunft haben und somit als obdachlos gelten. Für sie gibt es sogenannte Notschlafstellen, diese müssen aber tagsüber immer geräumt werden und abends muss man für einen Platz neu vorstellig werden. Die Gründe, warum Menschen ihre Wohnung verlieren, sind vielfältig und zeigen eines immer wieder deutlich auf: Jeden kann es treffen. Manche verlieren ihren Job und können vom Arbeitslosengeld ihre Wohnung nicht mehr bezahlen und finden keine neue. Andere wurden durch einen Schicksalsschlag oder eine schwere Krankheit völlig aus der Bahn geworfen, wurden depressiv oder entwickelten sogar eine Sucht und waren nicht mehr fähig, ihr eigenes Leben zu organisieren, lehnten Hilfe ab oder bekamen keine. Die Suche nach einer Wohnung kann dann ein unüberwindbares Hindernis werden.
Die Sache mit der Schufa…
Zudem holen potentielle neue Vermieter*innen gerne die Schufa-Bonitätsauskünfte ein. In diesen zeigt ein Bonitätsscore an, wie zuverlässig Forderungen aus Verträgen, Mieten, Krediten oder anderen Zahlungen bedient wurden. Negative Eintragungen, weil man z.B. einer Forderung nicht mehr nachkommen konnte oder Privatinsolvenz anmelden musste, schlagen sich auf die Wertung und können es mitunter unmöglich machen, einen Kredit aufzunehmen, Ratenzahlungen zu vereinbaren oder sogar nur einen Handyvertrag abzuschließen. Selbst wenn der Schufa nur ein Fehler unterlaufen ist, weil sie beispielsweise Personen verwechselt hat, kann es bedeuten, dass man mit einem negativen Eintrag in deren Verzeichnis auf dem ohnehin angespannten Wohnungsmarkt keine neue Bleibe finden kann.
Die Würde des Menschen ist nicht aufwiegbar, oder?
Darüber hinaus ist man als Obdachlose*r stigmatisiert und vielen Vorurteilen ausgesetzt, dabei ist die Gruppe der Obdachlosen sehr durchmischt und nicht als homogene Gruppe zu erfassen. Da sie jedoch eine der schwächsten Bevölkerungsgruppen darstellen und zudem keine schützende Lobby haben, werden sie oft zum Spielball der Emotionen. Entweder werden ihre Belange nicht ernst genommen und man unterstellt ihnen Eigenversagen oder man nutzt ihre Misere gegen noch schwächere Gruppen aus. Diese Technik der Manipulation nennt sich „Whataboutism“ und beschreibt einen Mechanismus, bei dem man bei unliebsamer Kritik ablenkt, in dem man auf ähnliche Missstände auf der Seite des Kritikers hinweist. Dies zeigt sich unter anderem immer wieder beim Thema Flüchtlingspolitik. Anstatt sich mit der Situation der Asylsuchenden auseinanderzusetzen, wird stattdessen auf die missliche Lage von Obdachlosen verwiesen. So werden diese beiden Gruppen gegeneinander ausgespielt und am Ende ist niemandem geholfen. Ausgesuchte Zitate unter öffentlich zugänglichen Facebook-Posts, die hier anonymisiert wurden, zeigen diese Haltungen beispielhaft auf.
Eine Abwärtsspirale
Eine weitere Schwierigkeit für Obdachlose ist, dass sie oft durch die Sozialnetze fallen, da sie nicht mehr richtig oder gar nicht mehr bei den entsprechenden Ämtern gemeldet sind. Immerhin sind nach § 1 Zahlungskontengesetz (ZKG) auch Obdachlose seit 2016 gesetzlich berechtigt ein Basiskonto bei jeder Bank eröffnen zu dürfen, solange eine Anschrift hinterlegt werden kann, diese kann auch einer Beratungsstelle gehören. Damit wurde dem Problem Einhalt geboten, dass Obdachlose aufgrund einer fehlenden Wohnungsanschrift kein Konto eröffnen und folglich vom Amt auch keine Sozialleistungen erhalten können. Da jedoch der Markt vor allem für günstigen Wohnraum aktuell sehr angespannt ist, finden viele Menschen trotz möglicher Übernahme der Kosten vom Amt keine Unterkunft. Nürnberg hat zwar das Modell der Sozialimmobilie, das heißt, das Sozialamt macht einen Einzelvorschlag und Vermieter*innen, wie z.B. die WBG, bieten dieser Person dann einen fristlosen Mietvertrag an. Jedoch reicht das Angebot dieser Immobilien nicht für den Bedarf aus und trotz Neubauten sinkt die Zahl der Sozialwohnungen mit fester Mietpreisbindung weiter, da aktuell die Förderung für zu viele Wohnungen gleichzeitig ausläuft. So verschlimmert sich die Situation für die Wohnungssuchenden immer weiter. Wer nun beispielsweise noch einen Hund hat oder auf Alkohol- oder Drogenkonsum nicht verzichten möchte oder kann, der findet auch oftmals in den Notschlafstellen keinen Platz. Es zeigt sich, wie viele unterschiedliche Faktoren das Los der Obdachlosigkeit beeinflussen.
Die Corona-Krise und ihre überraschenden Folgen
Doch dann kam „Corona“. Die Pandemie machte schnelle Maßnahmen unumgänglich. Somit mussten ab März die bisherigen Anlaufstellen für Wohnungslose ihren Betrieb stark einschränken oder ganz schließen. Im Zuge dessen wurden Einrichtungen, die vormals für den Andrang während der Flüchtlingskrise eingerichtet wurden und nun glücklicherweise ungenutzt waren, für Obdachlose geöffnet. Das bedeutet einen erheblichen Kosten- und Logistikaufwand für die Stadt Nürnberg. Da diese Unterkünfte nun fest bewohnt werden, um die Verbreitung des Virus nachhaltig zu reduzieren, muss nun auch rund um die Uhr ein Sicherheitsdienst und Hausmeister vor Ort sein. Zudem werden die Räume wenn nötig zweimal täglich gereinigt und eine Grundversorgung über einen Cateringservice wurde eingerichtet. Über 100 Menschen, mehr als erwartet, nutzten das Angebot und konnten so in 1- oder 2-Bett-Zimmern untergebracht werden. Überraschenderweise stellte sich dies als Glücksfall heraus. Die dauerhafte Unterkunft gab einigen die nötige Sicherheit zurück, sie begannen, sich und ihre Umgebung besser zu pflegen, für Beratungsangebote offener zu sein oder sich sogar direkt nach einem Job umzusehen. Sogar Haustiere wurden erlaubt, so dass mehr Menschen eine Bleibemöglichkeit eröffnet werden konnte. Trotz allem gibt es auch die, die sich und ihre Sucht nicht im Griff haben und aufgrund von Regelverstößen ein Hausverbot ausgesprochen bekamen (siehe dazu Straßenkreuzer 06/2020, S.10-19). Thorsten Bach, Koordinator für Wohnungsfragen und Obdachlosigkeit der Stadt Nürnberg, schätzte im Telefoninterview am 18.12.2020, dass noch rund 20 bis 50 Personen aktuell auf der Straße leben könnten, darunter auch jene, die das Angebot freiwillig ausgeschlagen haben.
Und danach?
Doch was passiert nun nach der Krise? Die dauerhaften Unterkünfte wird es wohl in dieser Form nicht mehr geben, da sie zu kostspielig sind. Dennoch wurde deutlich, dass es weit mehr Bedarf an Unterbringungsmöglichkeiten gibt als bisher gedacht. Deswegen wurde nun laut Protokoll des Sozialausschusses vom 08.10.2020 beschlossen, dass die „Diana-Herberge“ im Anschluss als nächtliche Notschlafstelle ganzjährig weiter in Betrieb bleiben soll und auch einen Tagesaufenthalt beinhalten wird, damit sich die Personen nicht direkt wieder auf der Straße aufhalten müssen. Das klingt zwar nach einem guten Kompromiss, bedeutet aber auch, dass die Schlafräume keine privaten Rückzugsräume bleiben können, sondern jeden Tag aufs Neue bezogen werden müssen. Vermutlich lassen sich so die positiven Effekte, die die festen Unterkünfte nun hervorgerufen haben, nicht aufrechterhalten.
Am Ende wird alles gut und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende
Für Jacky und Andi waren die Corona-Unterkünfte keine Option, da diese nur getrennte Anlaufstellen für Männer und Frauen anbieten. Zusammen mit Hund Mutzi konnten sie nur eine Pension beziehen, die sie aber pro Nacht laut eigener Aussage 35€ kostete. Doch dann kam die Wendung. Die Nürnberger Nachrichten wurden von einer engagierten Dame auf das Paar aufmerksam gemacht und berichteten über ihre Geschichte. Daraufhin wurden viele auf sie aufmerksam, verloren möglicherweise auch die Scheu, sie direkt anzusprechen. Es erreichte sie eine große Anzahl an Sach- und Geldspenden und gleich mehrere Vermieter*innen boten ihnen eine Wohnung an. Am 01.12. war es dann soweit, gerade noch rechtzeitig zur Weihnachtszeit. Die beiden wurden abgeholt und konnten mit Mutzi zusammen die ersten eigenen vier Wände nach drei Jahren beziehen. Was für Jacky das schönste Geschenk daran war? Nach den kalten Winternächten erst mal drei Stunden in einer warmen Badewanne liegen zu können. Das Lager in der Pfarrgasse gibt es jedoch immer noch. Mittlerweile wurde es neu bezogen. Für einige wird es auch dieses Jahr ein kaltes Weihnachten werden.
Sicherlich kann man nicht jedem helfen, wenn es jedoch die Situation zulässt, dann schaut bitte nicht weg, sprecht die Personen an und bietet Hilfe an. Manchmal reicht ein warmer Kaffee oder das Aufladen des Handys oder der Powerbank aus. Sollte jemand nicht ansprechbar sein, so ruft vor allem in der kalten Jahreszeit auf jeden Fall einen Krankenwagen oder sprecht Polizei oder Sicherheitskräfte an.
Schöne Feiertage für alle vom Menschenrechtszentrum Nürnberg!
Lisa Halbig ist derzeit Praktikantin im Nürnberger Menschenrechtszentrum (NMRZ). Sie studiert Politikwissenschaft im Master an der Friedrich-Alexander-Universität und macht demnächst ein Auslandssemester an der Duke University in den USA.