By Robin Bohn
Jeremy Bentham war ein früher Verfechter des modernen Sozialstaats und stand für Menschenrechte, die bis heute Geltung haben. Weniger bekannt ist er für seine Vorstellung eines Gefängnisses, das die perfekte Überwachung seiner Gefangenen zulässt. Es ist jedoch gerade diese Idee, die weitreichende Implikationen für unsere moderne, digitale Gesellschaft haben könnte.
Die Entwicklung des Panopticon
Seine Idee bekam Bentham, nachdem er gegen Ende des 18. Jahrhunderts seinen Bruder in Russland besuchte. Dieser hatte damit zu kämpfen, dass er eine hohe Anzahl an Fabrikarbeiter*innen beschäftigte, von denen die meisten schlecht ausgebildet waren. Um einen möglichst guten Überblick behalten zu können, kam er auf die Idee die Raumverteilung der Fabrikhalle an diese Bedingungen anzupassen. So platzierte er sich selbst an einem zentralen Punkt, damit er so viele Vorgänge wie möglich gleichzeitig beobachten konnte. Jeremy Bentham war der Meinung, dass sich dieses Konzept auch auf weitere Situationen anwenden lässt, wie zum Beispiel Schulen, Krankenhäuser und Gefängnisse. So entwickelte er die Idee des Panopticon – ein Gefängnis, welches die ständige Überwachung aller Insass*innen erlaubt.
Die Einzelzellen sollten nebeneinander in einem Kreis errichtet werden, ähnlich wie bei der Architektur eines Kolosseums, während ein Wachturm in der Mitte Einblick in jede Zelle erlaubt. Die Zellen sollten stark lichtgeflutet und die Fenster des Wachturms von außen uneinsichtig sein. Auf diese Weise können die Wächter*innen im Turm theoretisch jede*n Insass*in zu jeder Zeit beobachten, während die Insass*innen im Außenring zwar den Turm, aber nicht die Wächter*innen sehen können.
Für Inhaftierte wird also ein permanenter, bewusster Sichtbarkeitszustand geschaffen, der automatisch dafür sorgt, dass Regelverstöße und unerwünschtes Verhalten unterdrückt werden. Da die Insass*innen die Wächter*innen nicht sehen können, soll die Wirkung der Überwachung permanent sein, auch wenn es ihre Durchführung eigentlich nicht ist. Allein die Möglichkeit der Überwachung an sich sorgt für eine Verhaltensanpassung. Dieses angepasste Verhalten soll dann auf Dauer verinnerlicht werden.
Vom Panopticon zum Panoptismus
In seinem Buch „Überwachen und Strafen“ greift der französische Philosoph Michel Foucault das Panopticon von Bentham auf und stimmt dessen Prinzipien weitestgehend zu: Da Inhaftierte wissen, dass sie jederzeit überwacht werden können, verhalten sie sich letztendlich immer so, als würden sie überwacht. Auf die tatsächliche Durchführung kommt es dabei gar nicht an, da sich der*die Inhaftierte durch den Überwachungsdruck selbst diszipliniert: „Er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“.
Für Foucault ist das Gefängnis jedoch nur ein Beispiel, an dem sich Panoptismus – diese moderne Art von Disziplinierungsmaßnahmen – gut erklären lässt. Er ist der Meinung, dass das Wirkungsprinzip der disziplinierenden Beobachtung Vieler durch Wenige in fast allen gesellschaftlichen Bereichen Einzug gefunden hat. So werden Schüler*innen von Lehrer*innen beobachtet, Mitarbeiter*innen von ihren Vorgesetzten, Bürger*innen von Verwaltungsbeamt*innen und so weiter. Auf diese Weise werden alle Individuen seit ihrer Geburt diszipliniert bzw. „normalisiert“.
Panoptismus und das Internet
In den letzten Jahren ist der Begriff Panoptismus wieder häufiger aufgetaucht, vor allem in Zusammenhang mit Überwachungskameras. Denn auf diese lässt sich die Theorie des Panoptismus relativ gut übertragen: Die Kameras entsprechen demnach dem Turm, in dem sich die nicht sichtbaren Wächter*innen befinden und die Personen im Sichtfeld einer Kamera entsprechen den Gefangenen, da sie sich in einem ähnlich ungewissen Sichtbarkeitszustand befinden. Kameras sollen also, der Theorie nach, diszipliniertes Verhalten in videoüberwachten Bereichen erzwingen. Tatsächlich wird diese Idee bereits in George Orwells bekanntem Dystopie-Thriller „1984“ behandelt, in dem Überwachungsapparate großflächig Konformität von Menschen erzwingen sollen.
Demgegenüber hat die Überwachung im Internet tendenziell weniger Aufmerksamkeit erhalten. Dabei passen das Internet und alle technischen Geräte, die damit verbunden sind, vielleicht sogar noch besser in die Theorie des Panoptismus als Überwachungskameras. „Das Internet“ umfasst heutzutage deutlich mehr als nur das Verhalten in einem einfachen öffentlichen Raum. Vor allem Social Media Plattformen haben dafür gesorgt, dass private Informationen öffentlich zugänglicher geworden sind als zuvor. Doch selbst durch die normale, alltägliche Nutzung von elektronischen Geräten können Nutzer*innen unbewusst intime Details über ihre Privatsphäre preisgeben.
Die Gefahren moderner Datenverarbeitung
Bereits im Jahr 1983 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im berühmten „Volkszählungsurteil“ festgestellt, dass die Sammlung von personenbezogenen Daten im großen Stil die Erstellung hochpräziser Persönlichkeitsprofile ermöglicht. Insbesondere wenn verschiedene Datensätze miteinander kombiniert werden, können selbst einfachste Nutzungsdaten, die zunächst irrelevant erscheinen, weitreichende Rückschlüsse auf die Persönlichkeit und Handlungen von Individuen zulassen. Jegliche Nutzung von Computern, Smartphones u.ä. hinterlässt Datenspuren, die von anderen genutzt und verarbeitet werden können. Deshalb haben sich Daten zu einer der wichtigsten wirtschaftlichen Ressourcen entwickelt. Das zentrale Problem bei dieser konstanten Datensammlung ist, dass diese für Nutzer*innen vollkommen undurchsichtig und unkontrollierbar ist. Es ist also nicht mehr verlässlich einschätzbar, wer welche Nutzungsdaten speichert, diese an Dritte weiterleitet oder mit anderen Datensätzen kombiniert. Die Folge sind große Mengen an potenziellen Datensätzen, die diverse persönliche Informationen enthalten können. Aufgrund dieser Unsicherheit sieht das BVerfG eine potenzielle Freiheitseinschränkung aller Individuen, die informationstechnische Systeme nutzen:
„Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen“.
Selbstbestimmtes Handeln und eine freie Persönlichkeitsentfaltung können also unterdrückt werden. Ob man tatsächlich überwacht wird oder ob man sich diesbezüglich nur nicht sicher sein kann, spielt dabei laut BVerfG nur eine untergeordnete Rolle. Bis heute bilden die Prinzipien dieses Urteils des BVerfG die Basis für einen großen Teil der Datenschutzgesetze in Deutschland. Gleichzeitig klingen die Beschreibungen des Problems und der Folgen moderner Datensammlung stark nach der Definition des Panoptismus.
Permanent Record
Natürlich haben sich seit diesem Urteil aus den 1980ern die anfallenden Datenmengen vervielfacht, damals gab es noch kein Internet und keine Smartphones. Ebenso haben sich die Möglichkeiten, Daten zu sammeln und zu verarbeiten, stark verbessert. Insbesondere durch die Veröffentlichung von NSA-Geheimdokumenten durch Edward Snowden im Jahr 2013 hat die breite Öffentlichkeit einen kleinen Einblick in moderne Überwachungsmechanismen erhalten. Seither ist bekannt, dass jede noch so kleine Interaktion mit informationstechnischen Systemen gespeichert und ausgewertet werden kann. Leider gibt es auch keinen Grund zur Annahme, die Situation hätte sich seither geändert – im Gegenteil: in einem Interview im September 2019 äußerte Snowden die Sorge, dass die USA und andere Staaten, unter Mithilfe von großen Internetkonzernen, Mechanismen aufbauen, die alle individuellen Handlungen permanent dokumentieren können. Von vollständigen Persönlichkeitsprofilen, einer lückenlosen Dokumentation aller individuellen Handlungen und konstantem Live-Standort-Tracking durch Smartphones sind wir nicht mehr weit entfernt.
Wie passt also das Internet in die Theorie des Panoptismus? „Gefangene“ sind alle, die informationstechnische Systeme nutzen – also so gut wie jede*r. Das Internet und unsere technischen Geräte sind der Wachturm, der die Überwachung überhaupt erst möglich macht. Und die Wächter*innen im Turm sind diejenigen, die Daten sammeln und verarbeiten, speziell Internetkonzerne, Regierungen und deren Geheimdienste. Obwohl vielen von uns die Situation bewusst ist, leben wir freiwillig im Panopticon bzw. nutzen das Internet. Die wichtigsten Fragen bleiben jedoch unbeantwortet: Welches „abweichende Verhalten“, wie es das Bundesverfassungsgericht nennt, wird vermieden? Wie genau werden wir beeinflusst bzw. beeinflussen uns selbst?