Die Auswirkungen des Klimawandels auf Menschen wurden bisher kaum vor menschenrechtlichen Instanzen verhandelt. Doch das ändert sich. Seit 2019 reichen immer mehr Personen Klagen ein, oft unterstützt durch Nichtregierungsorganisationen. Mit Spannung wird erwartet, wie die Gerichte auf die Klagen reagieren, die die immensen Auswirkungen des Klimawandels sichtbar machen. Wird es zu der Anerkennung von Menschenrechtsverletzungen kommen oder scheitern die Klagen bereits an den formalen Fragen der Zulässigkeit? Gerade diese formalen Kriterien zu erfüllen, ist in Fällen mit Bezug zur Klimakrise sehr herausfordernd.
Aufgeteilt auf zwei Artikel untersuche ich vier Klagen, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und einem Ausschuss der UN eingegangen sind. Im ersten Teil dieses Artikels habe ich die Beschwerde der TorresStrait8 gegen Australien und den Fall der sechs portugiesischen Jugendlichen vorgestellt. Im zweiten Teil werde ich nun zeigen, dass auch Seniorinnen aus der Schweiz für mehr Klimaschutz vor Gericht ziehen und was der Klimawandel mit Kinderrechten zu tun haben könnte.
Fall 3: Wenn KlimaSeniorinnen aktiv werden
Gemeinhin wird gerade älteren Personen eine Schuld am Klimawandel zugeschrieben. Der Fall des Vereins KlimaSeniorinnen Schweiz könnte jedoch eine ganz andere Dimension aufzeigen. Die Gruppe hat jüngst eine Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht in der sie auf die besondere Betroffenheit von Älteren durch den Klimawandel hinweisen. Die Frauen machen zwar keine Diskriminierung nach Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention geltend. Sie argumentieren aber, dass sie als ältere Frauen ganz besonders unter den immer häufigeren Hitzewellen leiden und sogar mit dem Tod bedroht sind. Die Schweiz würde zu wenig im Kampf gegen den Klimawandel leisten und sie nicht vor den Auswirkungen schützen. Deshalb seien ihre Rechte auf Leben (Artikel 2) und auf Familienleben (Artikel 8) verletzt.
Im Fall der Seniorinnen macht die Gerichtsbarkeit keine Probleme, da sie sich nur gegen ihren Heimatstaat, die Schweiz, wenden. Der Fall enthält jedoch eine andere Schwierigkeit, die typisch ist für Fälle mit Bezug zum Klimawandel: Die Frage des Opferstatus. Als Opfer vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gilt nur, wer persönlich betroffen ist und wer die Verletzung bereits erfahren hat. Verletzungen, die erst in der Zukunft geschehen, genügen normalerweise nicht. Dies könnte im Fall der KlimaSeniorinnen ein Problem darstellen, da er sich zumindest teilweise auf zukünftige Auswirkungen des Klimawandels bezieht. Andernorts hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zwar festgestellt, dass eine Person in Ausnahmefällen bereits als Opfer gilt, wenn die Verletzung voraussichtlich eintritt. Im Fall des Klimawandels hat der Gerichtshof sich jedoch noch nicht geäußert, ob diese Voraussetzung erfüllt wird. Relevant bei der Bestimmung des Opferstatus könnte sein, ob das sogenannte Vorsorgeprinzip aus dem Umweltvölkerrecht angewandt wird. Dem Vorsorgeprinzip nach sollen Staaten handeln, noch bevor es zu negativen Umwelteinflüssen kommt. Das Prinzip stellt jedoch keine bindende Norm dar, sondern funktioniert eher als Interpretationshilfe bei der Auslegung von Verträgen.
Wenn dich der Fall der KlimaSeniorinnen interessiert, kannst du hier noch mehr erfahren.
Fall 4: Die Klimakrise als Frage der Kinderrechte
Einen formalen Opferstatus geltend zu machen ist notwendig für eine menschenrechtliche Beschwerde. Einige Klageführer_innen gehen jedoch noch weiter und betonen die besondere Betroffenheit von konkreten Bevölkerungsgruppen. Eine Beschwerde, die 2019 von insgesamt 16 Kindern – darunter Greta Thunberg – an den UN-Ausschuss für Kinderrechte herangetragen wurde, weist etwa auf die besondere Gefahr des Klimawandel für Kinder hin. Die Kinder wenden sich neben Deutschland gegen vier weitere Staaten, denen sie Versagen bei der Reaktion auf aktuelle und zukünftige Auswirkungen der Klimakrise vorwerfen. Hitzewellen, Wasserknappheit, die Verbreitung von Krankheiten, Angstzustände und die Verdrängung von indigenen Kulturen seien die Folge. Mit Bezug auf die UN-Kinderrechtskonvention sprechen die Kläger_innen deshalb von einer Verletzung des Rechts auf Leben (Artikel 6), des Rechts auf Gesundheit (Artikel 24) und des Rechts Indigener auf ihre Kultur (Artikel 30).
Außerdem machen sie eine Verletzung der Pflicht geltend, bei allen staatlichen Entscheidungen im Interesse von Kindern zu handeln (Artikel 3). Die Beschwerde verbindet diese Pflicht mit dem Konzept der intergenerationalen Gerechtigkeit aus der Klimarahmenkonvention, innerhalb der auch das Pariser Klimaabkommen erlassen wurde. Entsprechend verstehen sie das Klima als ein gemeinschaftliches Gut, dass für spätere Generationen bewahrt werden muss. Dieses Gut, so die Argumentation der Kinder, werde durch die angeklagten Staaten, die zu zögerlich handeln, zerstört. Zudem werden Kosten für Klimaschutz und -anpassung auf zukünftige Generationen abgewälzt. Weil dies das Gebot von Artikel 3 verletzt, fordern die Kinder die fünf Staaten dazu auf, sämtliche nationale Gesetzesinitiativen zu überprüfen, und im Sinne der Kinderrechte anzupassen.
Brasilien, Frankreich und Deutschland haben bereits erklärt, dass sie die Beschwerde für unzulässig halten und der UN-Ausschuss sie abweisen soll – noch bevor die Frage der intergenerationalen Gerechtigkeit überhaupt angesprochen werden kann. Wie in den Fällen der TorresStrait8 und der jugendlichen Kläger_innen aus Portugal bestreiten die Vertragsparteien, dass die Auswirkungen des Klimawandels, die die Kinder betreffen, ihnen zugeordnet werden können, und dass sie für Klimaschäden jenseits ihres Staatsgebiets Verantwortung tragen.
Hier gibt es weitere Informationen über die Beschwerde und die beteiligten Kinder
Fazit: Die Klimakrise und ihre Opfer
Wie die Fälle der TorresStrait8 und der portugiesischen Kinder beschäftigen sich auch die hier diskutierten Beschwerden mit juristischen Fragen, die typisch sind für Klagen mit Klimabezug. Und zwar geht es um die Anerkennung von Opferstatus und Betroffenheit. Hier macht die zeitliche Dimension der Klimakrise besondere Probleme. Mit Spannung wird deshalb beobachtet, ob der Europäische Gerichtshof das Vorsorgeprinzip im Fall der KlimaSeniorinnen anwenden wird. Während der Gerichtshof im Urteil Tătar vs. Romania sich auf das Vorsorgeprinzip bezog, schien er sich in einem späteren Urteil wieder davon zu distanzieren. In beiden Fällen ging es jedoch nicht um den Klimawandel.
Im Fall der Beschwerde der 16 Kinder vor dem UN-Ausschuss geht es nicht nur um die Anerkennung eines Opfer-Status, sie machen auch eine besondere Betroffenheit als Inhaber_innen von Kinderrechten geltend. Die Frage ist nun, ob die Vulnerabilität von Kindern anerkannt wird und wie der Ausschuss das Konzept des Kindeswohls mit Bezug auf den Klimawandel auslegt. Bisher hat der Ausschuss, der lediglich Empfehlungen an die Staaten abgeben kann, noch nicht entschieden, ob die Petition zulässig ist. Wann der finale Bericht erscheint, ist auch noch unklar. Die Entscheidung könnte der weltweiten Klimabewegung der Kinder und Jugendlichen, deren Stimmen seit der Covid-19-Pandemie weniger Raum bekommen, erneuten Auftrieb geben. Der Druck auf Staaten, effektiven Klimaschutz zu betreiben, dürfte dann wieder steigen.
Es ist zu erwarten, dass die Entscheidungen, die derzeit durch die Gerichte und Ausschüsse geprüft werden, einen großen Einfluss auf zukünftige Klagen mit Klimabezug haben werden. Die Zivilgesellschaft sollte die Entwicklungen in den menschenrechtlichen Instanzen deshalb gut im Blick behalten. Einerseits, um die politischen Initiativen, die aus diesen Klagen möglicherweise entstehen, zu begleiten. Aber auch, um einschätzen zu können, ob und inwiefern menschenrechtliche Beschwerden einen effektiven Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel leisten können.