Ideologie statt Wissenschaft in „Ideologie statt Biologie im ÖRR“ (Teil I)

In diesem Artikel greife ich die Pseudowissenschaft des Dossiers „Ideologie statt Biologie im ÖRR“ auf und zeige, warum das Dossier weit von Wissenschaft entfernt ist. Im zweiten Teil des Artikels werde ich im Detail auf zwei Argumente der Autor*innen eingehen und erklären, wo sie grobe Lücken in ihren Argumenten haben.

In Kürze: Was ist dieses Dossier eigentlich?

Am 1. Juni 2022 wurde auf der Website www.evaengelken.de ein fünfzigseitiges Dossier mit dem Titel „Ideologie statt Biologie im ÖRR“ veröffentlicht. Es soll die „Basis für einen von Naturwissenschaftlern und Medizinern gezeichneten offenen Beschwerdebrief“ (S. 5) darstellen, welcher die Themenauswahl, handwerkliche Qualität sowie angebliche Verbreitung von Falschinformationen durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) kritisiert. Es wird eine Ausnutzung der Reportagen für „woke-ideologische Meinungsmache“ (S. 5) identifiziert und beschrieben, wie die wahrgenommenen Fehler des ÖRR zu einem „Zerrbild der Realität“ (S. 5) führen sollen. Die beteiligten Kommentator*innen (welche ich ab hier als Autor*innen bezeichne) sind: Dr. Antje Galuschka (Biologin), Marie Vollbrecht (Biologin), Prof. Ilse Jacobsen (Mikrobielle Immunologie), Prof. Uwe Steinhoff (Philosoph), Dr. Alexander Korte (Mediziner), Rieke Hümpel (Biologin) und Dr. Michael Hümpel (Biochemiker). Parallel zum Dossier erschien ein Artikel auf WELT Online, bei dem sich fünf der sieben Autor*innen beteiligt haben. Der Titel: „Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren“ (Die Abbildung zeigt den Originaltitel mit Originalbild).

Die Originaldarstellung des WELT-Artikels, wonach Kinder angeblich „sexualisiert und umerzogen werden“

Im besagten Dossier nennen die Autor*innen konkrete Fernsehsendungen (ARD, ZDF, arte …) und Onlineangebote (Funk, Auf Klo, Y-Kollektiv, …) des ÖRR und kommentieren ausgewählte Beiträge daraus. Neben dem zentralen Thema Transgender werden unter anderem Themen wie Pornografie, Blutspende durch Homosexuelle oder sexuelle Aufklärung aufgegriffen. Nach diesen Kommentaren kommt ein Kapitel namens „Definitionen und Fakten“, in dem Definitionen zentraler Begriffe der Thematik Transgender formuliert werden, sowie ein weiteres Kapitel namens „Fragen und Antworten“ in welchem die Autor*innen einzeln gewählte Fragen aus den genannten Themenblöcken beantworten. Der Rest des Dossiers ist für diesen Artikel irrelevant.

Ist das wirklich die Arbeit von Wissenschaftler*innen?

Die Autor*innen betonen ihren wissenschaftlichen Hintergrund über das gesamte Dossier hinweg. Bei den erwähnten Kommentaren wird immer klargestellt, wer gerade kommentiert und was der wissenschaftliche Hintergrund der Person ist. Diese Transparenz hilft uns Leser*innen dabei nachzuvollziehen, was die Autor*innen sich gedacht haben und warum. Das war es dann aber schon mit wissenschaftlicher Methodik. Über das Dossier hinweg ist zu keinem Zeitpunkt klar, ob sie einen wissenschaftlichen oder journalistischen Text schreiben wollten. Tatsächlich versagen sie in beiden Disziplinen. Ich erwähne hier ein paar Fehler, die keinem Wissenschaftler und keiner Wissenschaftlerin passieren (sollten). Persönlich glaube ich übrigens, dass der Artikel pünktlich zum Pride Month und zum begleitenden WELT-Artikel erscheinen sollte, weshalb die Autor*innen sich beeilen mussten und entsprechend einen unvollständigen Entwurf veröffentlicht haben.

Unbegründete Meinungen statt tatsächliche Argumenten

Während die Autor*innen teilweise versuchen durch Verweise auf „Definitionen und Fakten“ zu erklären, warum sie bestimmte Meinungen haben, passiert das leider oft überhaupt nicht. Die Autor*innen verwenden über das gesamte Dossier Abbildungen, bei denen oft nicht ganz klar ist, wo sie herkommen, und sie helfen ihren Leser*innen auch nicht mit passenden Beschreibungen. Bei einem Instagram-Post von „Glanz&Natur“ über Zensur sensibler Inhalte schreiben die Autor*innen, diese seien „nicht ‚sensibel‘, [sondern] explizit unsensibel und widerlich […]. Beispiel einer typischen Begriffsumkehr.“ (S. 39) Wie begründen die Autor*innen ihre Meinung? Gar nicht.

Eine Reportage über das Kaufen getragener Unterwäsche nennen sie jugendgefährdend (vgl. S. 18). Ein Instagram-Post, der die optische Vielfalt an Genitalien normalisiert, sei laut den Autor*innen „Grooming-verdächtig“ (S. 12). Dieser Begriff wird sieben Seiten später nochmal benutzt und erst hier definiert: „Grooming bezeichnet die Annäherung von Erwachsenen an Kinder und Jugendliche in missbräuchlicher Absicht“ (S. 19). Während die Autor*innen für andere Definition den Duden zitieren (siehe unten), erfinden sie diese Definition einfach. Der Duden beschreibt Grooming stattdessen wie folgt: „gezielte Kontaktaufnahme eines oder einer Erwachsenen mit minderjährigen Personen in der Absicht, sie sexuell zu missbrauchen“. Das zentrale Adjektiv ist „gezielt“, denn Grooming beschreibt das Verhalten eines einzelnen Erwachsenen gegenüber einzelnen Kindern. Per (korrekter und üblicher) Definition ist das über einen öffentlichen Post unmöglich, solange dieser nicht der gezielten Kontaktaufnahme dient. Selbst mit der falschen Definition wird den Leser*innen nicht erklärt, warum diese Posts jugendgefährdend oder Grooming-verdächtig sein sollen.

Als Orientierungspunkt nutzen die Autor*innen außerdem häufig die ICD-11 (Eleventh revision of the International Classification of Diseases), also den internationalen Guide zum aktuellen wissenschaftlichen Verständnis von Krankheiten. In einem Beitrag des Weltspiegel-Podcasts über das Thema Transgender werden bei einem historischen Blick auf Geschlechter in Indonesien intersexuelle Menschen erwähnt. Intersexualität als physiologische Störung unterscheidet die ICD-11 laut den Autor*innen vom „psychischen Phänomen der ‚Geschlechtsinkongruenz‘, welche in der ICD-10 ‚Transsexualismus‘ genannt wurde“ (S. 7). Die vermeintliche Begriffsvermengung von Homo-, Trans- und Intersexualität sei laut den Autor*innen eine Strategie der Transaktivist*innen zur Erreichung ihrer politischen Ziele. Welche Ziele meinen die Autor*innen? Gleichbehandlung aller Geschlechter?

Die Autor*innen lügen über das im ÖRR Gesagte

Der Kanal „Auf Klo“ hat ein Video mit dem Titel „Was ist Geschlecht denn jetzt? 11 Fakten“ produziert. Hier werden verschiedene Aspekte der Thematik Transgender erklärt. Die Autor*innen sagen, dass der Beitrag „Geschlecht“ kompliziert nennt, den Begriff aber selbst nicht definiert. Tatsächlich wird im Video unter „Fakt 3“ erklärt, dass es im Englischen die Begriffe Sex und Gender gebe und wie diese jeweils verstanden werden. Die beiden Dimensionen des Begriffes werden also eindeutig beschrieben. Die Autor*innen schreiben weiter:

„Undefiniert wird der Begriff nun weiterhin benutzt, um weitere Begriffe zu beschreiben. Auch ‚Fakt 4‘ ist eine pure Fake-Information: ‚Talente und Interessen haben nichts mit dem Geschlecht zu tun.‘ (Wobei Geschlecht ironischerweise nun wieder in der biologischen Bedeutung verwendet wird.) Hierzu gibt es internationale Studien, die belegen, dass es durchaus geschlechtstypische Talente (z.B. räumliches Vorstellungsvermögen bei Männern) und Verhaltensweisen gibt.“ (S. 20)

Es wurde aber im Video direkt vor „Fakt 4“ der Unterschied zwischen soziologischem und biologischem Geschlecht erklärt. Die Autor*innen beschreiben hier die Verwendung des biologischen Geschlechts als „ironischerweise“, da sie selbst etwa 20 Sekunden vorher im selben Video nicht aufgepasst haben. Das angebrachte Beispiel eines besseren räumlichen Vorstellungsvermögens bei Männern hat keinerlei Aussagekraft. Falls das ein Fakt ist, dann heißt das nicht, Frauen könnten kein Interesse an Themen haben, die ein solches Vermögen benötigen. Die Autor*innen sagen außerdem selbst, dass es geschlechtstypische Verhaltensweisen gibt und kommen damit dem modernen Verständnis des Begriffes „Gender“ sehr nahe, scheinen jedoch noch immer nicht zu verstehen worüber gesprochen wird.

Über ein Interview auf dem YouTube-Kanal „Leeroy will’s wissen“ schreiben die Autor*innen: „Der interviewte Pornodarsteller wurde bereits wegen Kindesmissbrauchs angezeigt, was von Leeroy nicht kritisch hinterfragt wird.“ (S. 16) Im Video erklärt der Darsteller, er habe einen Film in der Öffentlichkeit gedreht und eine Rudermannschaft, deren Alter er auf die Ferne nicht einschätzen konnte, sei vorbeigefahren. Weil die Mannschaft jedoch noch nicht volljährig war, führte das zu einer Anklage wegen Kindesmissbrauchs, welche vor Gericht aber schnell abgewiesen wurde. Der Interviewer Leeroy hätte nicht mehr erfragen können, denn der Darsteller hat bereits die gesamte Geschichte erzählt. Ebenfalls werfen die Autor*innen dem Kanal vor, der Beruf des Pornodarstellers bzw. der Pornodarstellerin würde normalisiert werden. Tatsächlich befindet sich das Interview in einer Serie von Videos mit dem Titel „Berufe – Wie ist das…?“, bei welcher Leeroy außergewöhnliche Berufe, wie Youtuber*in, TV-Moderator*in oder E-Sportler*in vorstellt. Der Beruf wird hier also explizit als außergewöhnlich eingeordnet.

Diese beiden Beispiele wurden gewählt, weil von der jeweiligen Video-Quelle nicht einmal zehn Minuten gesehen werden müssen, um festzustellen, dass die Autor*innen entweder nicht verstanden haben, was sie gesehen haben oder bewusst darüber lügen. Es ist weder zeitlich noch nervlich möglich bei jeder einzelnen Quelle nachzuschauen, wie stark die Autor*innen tatsächlich gelogen haben. Hier kommt Brandolinis Gesetz zur Anwendung: „Das Widerlegen von Schwachsinn erfordert eine Größenordnung mehr Energie als dessen Produktion.“

Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt

Definitionen werden ohne Bezug auf Quellen angebracht (vgl. S. 37-39). Interessant ist, dass die Autor*innen die Definition des zentralen Begriffes „Frau“ dem einzigen nicht-biologischen Ko-Autor (Dr. Uwe Steinhoff, Philosoph, welcher im Text mehrmals fehlerhaft als „Steinhoft“ bezeichnet wird) überlassen haben. Er nutzt hier die erstbeste Quelle, die er wohl finden konnte, den Duden; nutzt ihn jedoch auch noch falsch. Er schafft es zunächst „Frau“ korrekt als „erwachsene Person weiblichen Geschlechts“ zu zitieren. Bei dem Versuch danach das „weibliche Geschlecht“ zu definieren, entdeckt er aber die Definition, die er wohl hören wollte: das „gebärende Geschlecht“, während er dabei versagt zu lesen, dass der Duden „weiblich“ ebenfalls als „von der Art, wie es (in einer Gesellschaft) für die Frau, das weibliche Geschlecht als typisch, charakteristisch gilt“ definiert. Anschließend bringt der Philosoph eine ausführliche Definition des Begriffes „Geschlecht“ hervor. Die Quelle hierzu sei „die Biologie“ (S. 37). Was das genau bedeuten soll, macht er natürlich nicht klar. Hätte er „Geschlecht“ im Duden nachgeschlagen, wäre er wieder auf soziologische Begriffe gestoßen, die seine Agenda nicht gestützt hätten. Das Ignorieren von Fakten und Definitionen deutet bereits auf ein Problem hin, welches ich in Teil II noch genauer behandeln werde: Keine der Autor*innen scheint zu verstehen, dass diese Debatte eine soziologische Komponente hat.

Die Autor*innen enttäuschen ihre eigenen Erwartungen

Mehrfach versuchen die Autor*innen die Transgender-Diskussion im Kontext von Propaganda zu framen. Sie verwenden beliebte Kampfbegriffe wie „Woke-Ideologie“ (S. 5, 12, 34), „Transgender-Ideologie“ (S. 6, 34), „Queer-Ideologie“ (S. 17), „Gender-Ideologie“ (S. 17, 21, 35) oder „TERF-Ideologie“ (S. 34). Begriffe, die zufällig gerne vom stark-rechten Flügel verwendet werden. Außerdem kritisieren sie, dass in Interviews aus den vorgestellten Programmen keine kritischen Fragen gestellt wurden (vgl. S. 7, 8, 15, 20, 21, 36). Warum Journalist*innen ein Interview mit einem Transjugendlichen und seinen Lebenserfahrungen kritisieren sollen (vgl. S. 20), erklären die Autor*innen nicht. Sie kritisieren einen Beitrag zu Transoperationen wie folgt: „Der Beitrag lässt nicht eine kritische Stimme zu Wort kommen“ (S. 15). Die offensichtliche Ironie ist den Autor*innen leider entgangen, denn ihr Werk wurde nicht peer-reviewed und enthält keinerlei Kritik oder Gegenmeinung. Die Autor*innen bemerken selbst nicht, dass sie all diese Dinge selbst tun. Jede Aussage, die ihnen nicht gefällt oder die sie nicht verstehen, muss automatisch Propaganda und Ideologie sein, während sie selbst ein lupenreines Beispiel für unfundierte Ideologie darstellen. An einigen Stellen in ihrem Dossier scheinen die Autor*innen tatsächlich wahrzunehmen, dass das „Geschlecht“ von manchen Menschen als „soziale Konstruktion“ (S. 7, 10) verstanden wird. Dabei kommen sie dem Verständnis der Thematik ein weiteres Mal nahe, gehen jedoch nicht darauf ein. Hätten die Autor*innen erklärt, dass sie beide Dimensionen verstanden haben und die soziologische Dimension getrennt von der Biologie nicht behandeln werden, weil sie sich damit nicht auskennen, dann hätten sie zwar einen großen Teil der Transdebatte ignoriert, aber könnten zumindest innerhalb ihres Wissensgebietes bleiben.

In Teil II werde ich daher beschreiben, warum die Autor*innen sich selbst ein Bein gestellt haben, als sie nicht versucht haben, das soziale Geschlecht zu verstehen. Außerdem gehe ich auf das Thema Blutspende durch Homosexuelle ein, weil die Autor*innen auch hier darin versagt haben, ihre Quelle korrekt zu lesen und aus den falsch zitierten Ergebnissen falsche Schlussfolgerungen gezogen haben.

2 thoughts on “Ideologie statt Wissenschaft in „Ideologie statt Biologie im ÖRR“ (Teil I)

  1. Mir und meinen Arbeitskollegen hängt der ganze Gender-Hype so oder so zum Hals raus.
    Lasst den ganzen Schmarrn mit geänderter Rechtschreibung und drückt uns nicht eure Überzeugung auf.

    1. Dann ignorieren Sie den „Gender-Hype“ doch einfach.

      Bei der Sprache halte ich den goldenen Mittelweg für angemessen, also einfache Hauptwörter sowie Grundwörter mehrgeschlechtlich ausdrücken und Bestimmungswörter nicht. Ist einfacher als die verbreiteten Doppelungen und macht Männer nicht unsichtbar.

      Autor Fabian Fassmann hat meines Erachtens weitgehend den Nagel auf den Kopf getroffen. Das Dossier liest sich wie ein Wahlkampfpamphlet der AfD oder das Stammtischgeschwätz abgehalfterter Wutbürger. Die Krönung kommt auf Seite 21: „Cis ist deshalb eine Beleidigung, weil es ein Propaganda-Begriff aus
      dem Genderideologie-Glossar ist.“ Hier bekommen einfach ein paar Leute Schnappatmung, weil die konservative Deutungshoheit angetastet wurde.

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