Frauenrechte in Afghanistan: Welchen Plan verfolgen die Taliban?

by Mirjam Klinger –

Nach fast 20 Jahren endete der längste militärische Einsatz der NATO-Partner mit dem Wiedereinzug der Taliban in das Land am Hindukusch. Am 15. August 2021 waren die Taliban nach Kabul zurückgekehrt und hatte die Kontrolle über die afghanische Hauptstadt übernommen. Schon von 1996 bis 2001 hatte die islamistisch-fundamentalistische Bewegung in Afghanistan geherrscht. Damals zogen zunächst US-amerikanische Truppen und danach auch weitere NATO-Mitglieder ins Land, um nach den Anschlägen des 11. Septembers mit der Operation Enduring Freedom Krieg „gegen den Terror“ zu führen. Dieser Krieg scheint nun zumindest für die USA für beendet.  

Doch wie sehr unterscheidet sich die aktuelle Lage Afghanistans von der letzten Herrschaft der Taliban? Vor allem Mädchen und Frauen hatten damals unter der strikt an der Scharia orientierten Regierung gelitten. Laut offiziellen Aussagen der Taliban sollen die Rechte der Frauen dieses Mal geachtet werden. Die Taliban gibt sich zu Beginn ihrer zweiten Herrschaft weitaus weniger radikal als noch vor 20 Jahren. Es stellt sich dennoch die Frage, wie weit diesen Aussagen getraut werden kann. Die tatsächliche Situation der Frauen in Afghanistan zeigt schließlich ein deutlich anderes Bild. Seit ihrer Machtübernahme haben die Taliban diverse Frauenrechte missachtet oder eingeschränkt.  

Schulausschluss und Sportverbot  

Laut Human Rights Watch wird es jeden Tag deutlicher, dass die Übernahme als herber Rückschlag für die Frauenrechte in Afghanistan angesehen werden kann. Täglich werden neue Verbote oder Regelungen verkündet. Vor allem im Bereich Bildung nehmen die Einschränkungen immer weiter zu. So ist es Frauen offiziell zwar erlaubt zu studieren, jedoch gibt es dafür diverse Auflagen an den Universitäten. Es ist Frauen und Männern untersagt gemeinsam an Vorlesungen teilzunehmen. Zudem sind Studentinnen dazu verpflichtet Hijabs zu tragen. Durch einen Vorhang sollen Studentinnen zusätzlich von ihren männlichen Professoren getrennt werden. Diese Vorgaben – vor allem die strikte Geschlechtertrennung – sind von den Universitäten häufig nicht erfüllbar. Am 28.09.2021 verkündete der neue Kabuler Universitätsdirektor Mohammed Aschraf Ghairat – der ein paar Tage zuvor von der Taliban eingesetzt worden war – auf Twitter, dass „solange nicht ein echtes islamisches Umfeld für alle gegeben“ sei, Frauen nicht zum Studieren oder Arbeiten kommen könnten. Somit sind Frauen in Kabul nun tatsächlich gänzlich von Bildung und auch Beruf ausgeschlossen. Auch an den Schulen sollen Mädchen über 12 Jahren erst einmal nicht mehr am Unterricht teilnehmen. Laut Taliban-Sprechern sei dies jedoch nur vorübergehend, bis ein neues „System“ nach islamischen Werten gefunden worden sei.  

Auch in anderen Bereichen vermehren sich die Einschränkungen der Frauenrechte. Weibliche Journalistinnen dürfen beispielsweise nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen. Ein Taliban-Sprecher riet Frauen gar gänzlich dazu zu Hause zu bleiben und nicht zur Arbeit zu gehen. Als Grund dafür nannte er die Gefahr von Taliban-Kämpfern misshandelt zu werden. Angebote für Frauen und Mädchen, die geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind, wurden gezielt eingestellt und geschlossen. Außerdem wird Frauen inzwischen jegliche sportliche Aktivität untersagt. Frauensport sei weder angemessen noch notwendig. Die Demonstrationen, welche Anfang September gegen die Missachtung von Frauenrechten unter anderem in Herat stattgefunden hatten, wurden durch die Taliban gewaltsam beendet. Mehrere Frauen wurden durch Schüsse verletzt und Journalist*innen wurde es verboten über die Demonstrationen zu berichten. Die beiden afghanischen Journalistinnen Nematullah Nakdi und Taki Darjabi hatten dieses Verbot missachtet und wurden daraufhin nach ihrer Berichterstattung über eine Demonstration am 8. September in Kabul von Taliban-Kämpfern brutal zusammengeschlagen. 

Keine Politikerinnen in der Regierung 

Schaut man sich die neu gebildete Regierung der Taliban an, fällt auch hier der Mangel an weiblichen Mitgliedern auf. Zwar beinhaltet das aktuelle Kabinett Vertreter afghanischer Minderheiten und ist somit deutlich diverser als noch vor 20 Jahren, jedoch sind dort bisher keine Frauen aufzufinden. Der Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid verkündete auf einer Pressekonferenz fünf Wochen nach der Machtübernahme: „Wir versuchen, das Kabinett weiter zu stärken, und so Gott will, werden Frauen für bestimmte Positionen in den erforderlichen Sektionen ernannt und eines Tages werden wir sie hier bekannt geben“.  

Wenige Tage nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul stampften die radikalen Islamisten das Frauenministerium ein und ersetzte dies durch das sogenannte Tugend- und Sittenministerium. Das Tugendministerium war während der ersten Herrschaft der Taliban bereits ein Symbol für die willkürlichen Repressionen und den Machtmissbrauch der islamistischen Herrscher. Vor allem Frauen und Mädchen hatten zu dieser Zeit unter den Handlungen des Ministeriums gelitten. Durch öffentliche Peitschenhiebe und Inhaftierungen setzte das Ministerium damals rücksichtslos die Repressionen der Talibanregierung durch. Frauen wurden unter anderem wegen des Tragens von nicht ausreichend blickdichten Socken; dem Zeigen ihrer Handgelenke, Hände oder Knöchel; und dem Bewegen ohne nahen männlichen Verwandten in der Öffentlichkeit von Ministeriumsmitarbeitern auf offener Straße geschlagen. Ob das Tugendministerium dieses Mal genauso radikal vorgehen wird, ist noch abzuwarten.  

Druckmittel: Frauenrechte  

Deutlich ist jedoch jetzt schon zu erkennen, welchen klaren Gegensatz es zwischen den Handlungen der Talibanregierung und ihren offiziellen Aussagen an die internationale Gesellschaft gibt. In diversen Statements geben sich die Taliban gemäßigt und um Verständigung bemüht. Immer wieder wird versichert, dass Frauenrechte geachtet werden, es dafür aber zunächst Anpassungen an den Islam geben müsse. Dieser Widerspruch lässt sich durch verschiedene Faktoren begründen. Einerseits sind die Taliban gespalten und haben momentan keine wirklich einheitliche Position. Wie die afghanische Frauenaktivistin Kobra Balooch der Deutschen Welle berichtete, gebe es zwei Flügel innerhalb der Taliban – den radikalen und den pragmatischen. Dies würde auch begründen, dass in verschiedenen Gebieten Afghanistans unterschiedliche Regeln gelten würden. So wurden beispielsweise Mitte September in der Provinz Balch im Norden Afghanistans Schulen für Mädchen regulär geöffnet. Vor allem der pragmatische Flügel hatte zuletzt die Friedensverhandlungen geführt.  

Dipali Mukhopadhyay – eine Wissenschaftlerin an der University of Minnesota – weist darauf hin, dass Gruppen wie die Taliban oft Schwierigkeiten damit haben, den Übergang von gewalttätigen Aufständen zu einer tatsächlichen Regierungsführung zu schaffen. Ihnen fehlt die Erfahrung, die Mittel oder das Personal, um hochentwickelte staatliche Dienstleistungen zu erbringen. Stattdessen konzentrieren sich solche Gruppierungen auf die Kontrolle der Sicherheit. Mit ihrem Status als mächtigste gewalttätige Gruppierung tauschen sie öffentliche Sicherheit gegen Gehorsam. Aus dieser Sicht dient die Einschränkung der Freiheiten von Frauen als Machtdemonstration der Taliban. Das Verschwinden der Frauen und Mädchen aus dem öffentlichen Leben zeige, dass die Taliban genügend Macht verfügen, um den öffentlichen Raum dramatisch umzugestalten, so Mukhopadhyay. Zudem könne dieses Handeln der Taliban ihre Unterstützung unter konservativen Afghanen stärken. Vor allem Männer hatten die Veränderungen während der letzten 20 Jahre mit einem äußerst kritischen Blick betrachtet.  

Anders sieht es im internationalen Kontext aus. Hier kann das Thema Frauenrechte für die Taliban gar zu einer Art Druckmittel werden. Die Islamisten bemühen sich seit ihrer Machtübernahme um internationale Akzeptanz. Somit steht die Taliban zwischen ihrem eigenen Verständnis von Recht – ihren innenpolitischen Plänen und den internationalen Menschenrechten – und ihren außenpolitischen Wünschen. Ende September baten die Islamisten in einem Schreiben an die Vereinten Nationen um Rederecht bei der laufenden Generaldebatte der UN-Vollversammlung. Die eigene Repräsentation bei den Vereinten Nationen wäre ein Schritt in Richtung internationaler Anerkennung. Außerdem könnte somit auch der Weg zu internationalen Hilfeleistungen geebnet werden. Bereits jetzt leben viele der 32 Millionen Afghan*innen in Armut und haben nicht ausreichend zu Essen. Spätestens im Winter droht laut der UN eine katastrophale Hungersnot im Land. Afghanistan ist somit dringend auf Spenden aus dem Ausland angewiesen. Aktivist*innen und Frauenrechtler*innen fordern aus diesem Grund Geberländer dazu auf die Zahlungen und eventuelle Zusammenarbeit an strenge Bedingungen zu knüpfen. Auch der UN-Generalsekretär António Guterres bekräftigt, dass die Humanitäre Hilfe nicht auf Kosten der Fortschritte für Frauen und Minderheiten in den letzten 20 Jahren basieren darf. Die Vorsitzende des afghanischen Frauenvereins – Nadia Nashir-Karim – ist jedoch der Meinung, dass unter allen Umständen weiterhin Entwicklungshilfen gezahlt werden müssen. Afghanistan drohe ein harter Winter und somit würden Millionen von Zivilisten unter einem Stopp der Hilfen leiden, so Nashir-Karim.  

Auch die internationale Gesellschaft steckt beim Thema Frauenrechte in einer Zwickmühle. Die aktuelle Notlage in Afghanistan ist so groß, dass das Knüpfen der Hilfeleistungen an Bedingungen unmöglich werden kann. Nur eines ist sicher, für beide Parteien, die Taliban und die internationale Gesellschaft, wird das Thema Frauenrechte auch in der Zukunft eine wichtige Verhandlungsgrundlage sein. 

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Mirjam Klinger ist ehemalige Praktikantin des Nürnberger Menschenrechtszentrums. Sie studiert Politikwissenschaft im 4. Mastersemester an der FAU Erlangen und schreibt aktuell ihre Masterarbeit über intersektionalen Feminismus.  

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