Eine Randnotiz zur Frage, was man bei der Documenta hätte lernen können.
Vorneweg: Hier soll den berechtigten Kritiken der documenta nicht eine weitere hinzugefügt werden. Ich will vielmehr das Profil eines arabischen Nationalisten mit ursprünglich kosmopolitischen Wurzeln in Erinnerung rufen, der im Vorfeld der documenta zu schnell als Antisemit erledigt wurde. Dabei hätte eine an Aufklärung und Lernprozessen interessierte Öffentlichkeit an diesem exemplarischen Lebenslauf das Entstehen des palästinensischen Narratives studieren können.
Am 13. Januar 2022 fragte Thomas E. Schmidt in der ZEIT:
“Hat die Documenta ein Antisemitismusproblem?“
Inzwischen sind fundiertere Gründe für die Frage gegeben; damals war das Argument:
„Wenn Vertreter von Organisationen wie dem Khalil Sakakini Cultural Center eingebunden werden – und also die Sache mitprägen -, wird es unschön. Entweder ist es Absicht oder Blauäugigkeit. Al-Sakakini (1878-1953) war ein arabischer Nationalist und Nazi-Sympathisant. Er rief schon früh zum Kampf gegen die Juden auf und ist heute ein palästinensischer Säulenheiliger.“
Die Charakterisierung stimmt soweit mit dem Wikipedia-Eintrag überein; es führte aber in der Konsequenz dazu, dass das Grau im Schwarz-Weiß des Antisemitismusvorwurfes zu schnell verschwindet.
Tom Segevs Zeitzeuge
Meine Quelle ist der bekannte israelische Historiker Tom Segev („Die siebte Million – Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung“, Reinbek 1995). Wer sich mit der Entstehungsgeschichte des Konfliktes Juden und Palästinensern beschäftigt, ist gut beraten, auch sein Werk „Es war einmal ein Palästina“ (Landeszentrale für politische Bildung Bayern, 2005, ursprünglich im Siedler-Verlag erschienen) zu lesen. Sakakinis Tagebücher (von Segev Khalil al-Sakakini) waren eine wichtige Quelle für diese Forschung. „One Palestine“ so der Titel der internationalen Ausgabe (im Jahr 2000 bei Metropolitan Books, New York, erschienen), beginnt mit einer Szene in Jerusalem im Haus des Sakakini, des christlichen Arabers und Reformpädagogen, der in Jerusalem überall bekannt war. Es ist der 28. November 1917, Palästina also noch unter türkischer Herrschaft: „Im Morgengrauen klopfte es an seiner Haustür, er ging hinunter und öffnete. Vor ihm stand Alter Levine, ein jüdischer Versicherungsagent, den er flüchtig kannte. Levine bat Sakakini, im Unterschlupf zu gewähren, da er von der türkischen Polizei gesucht werde.“ Levine wurde als Spion gesucht; er war als amerikanischer Staatsangehöriger mit dem Kriegseintritt zum Feind geworden. Zähneknirschend und beunruhigt nahm ihn Sakakini auf. Prompt wurden beide auch einige Tage später verhaftet, aneinander gefesselt und über Jericho und Amman nach Damaskus ins Gefängnis gebracht. Die Bemühungen um Freilassung waren bei beiden erfolgreich; beide schlossen sich mit dem Ende der türkischen Herrschaft und dem Beginn des britischen Mandats der jeweiligen jüdischen bzw. arabischen Nationalbewegung an.
Bildung und Propaganda
Unter den Briten wurde Sakakini Leiter des Jerusalemer Lehrerkollegs, war dann aber immer weniger mit der Mandatspolitik einverstanden und arbeitete immer entschiedener in der arabischen Nationalbewegung und der Begründung einer neuen nationalen Schule mit. Er wurde trotz seiner christlichen Glaubenszugehörigkeit eingeladen, von der Kanzel der Al-Aksa-Moschee gegen den Besuch Lord Balfours in Palästina zu protestieren (im Jahr 1927).
1935 beantragte Sakakini einen Waffenschein. Segev zitiert aus den Tagebüchern und Briefen an den in Kairo studierenden Sohn Sari eine Notiz, in der sich Sakakini bewundernd über einen Mordanschlag, dem drei Juden in Jerusalem zum Opfer fielen (16. Mai 1936) äußert. Segev charakterisiert die Situation:
„Der Konflikt zwischen den beiden Völkern entwickelte sich von nun an zu einer Gefahr für die Sicherheit jedes Einzelnen und dies an jedem Tag der Woche und zu jeder Stunde des Tages. Man gewöhnt sich an ein Leben des absoluten Terrors.“
Sakakini hat aber sein ‚Weltbürgertum‘, das er auch einem USA-Aufenthalt verdankte, noch nicht ganz vergessen. „Jedes Mal, wenn ich hier bin, habe ich das Gefühl, in das Mittelalter zurückversetzt worden zu sein. Es kommt mir vor, als habe Nablus von Elektrizität und Kino, Theater, Konzerten, Tennisplätzen noch nie etwas gehört“ schreibt er an Sari, den er auch lieber an einer Universität in den Vereinigten Staaten studieren sähe. Neben seinem Eintreten für eine Stärkung des Nationalbewusstseins in den Schulen setzte er sich daher auch für die Einführung der Erziehungsprinzipien ein, die er sich schon lange zu eigen gemacht hatte: die geistige Befreiung der Schülerinnen und Schüler, sexuelle Aufklärung, humanistische und sozialistische Ideen. Da musste ihn natürlich immer wieder auch der Terrorismus beunruhigen: „Frag mich nicht, wie sehr ich unter der Situation leide. Die Anschläge verursachen mir große Pein, gleichgültig, ob sie Araber, Engländer oder Juden treffen. Aus diesem Grund wirst du mich manchmal auf der Seite der Araber, andere Male auf der Seite der Engländer, wieder andere Male auf der Seite der Juden finden.“ schreibt er nach Kairo an den Sohn.
Kein Lebensrecht für Juden in Palästina
Segev sucht in seiner Darstellung des Lebenslaufes keine Erklärung der widersprüchlichen Äußerungen, sondern stellt einfach abschießend fest:
„Sakakini nahm den Briten gegenüber eine ebenso unversöhnliche Haltung ein wie gegenüber den Juden. Daran änderten …. die Nachrichten von der Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten nichts. Nach wie vor fand er, dass Juden zwar nach Palästina kommen könnten, um dort zu sterben, wie sie es unter türkischer Herrschaft getan hatten, aber nicht, um dort unter britischem Schutz zu leben. Nazifreundliche und antijüdische Gefühle kommen gegen Ende des Tagebuches deutlich zum Ausdruck.“
Sakakini wollte das Entstehen einer jüdischen Heimstätte mit aller Gewalt verhindern.
Aus meiner wie aus der Sicht vieler Menschen in Deutschland und Europa ist das spätestens im Anblick der Shoah inakzeptabel. Aber dennoch: in der Vorgeschichte der Staatsgründung Israels gibt es eine Entwicklung von Personen, die man nicht mit dem Antisemitismus-Verdikt erledigen kann. Sie wurden im Lauf ihres Lebens zu arabischen Nationalisten und Judenfeinden. Sie kämpften – nach eigenem Selbstverständnis – gegen die Ansiedlung eines zweiten Volkes in Palästina. Wenn man zugesteht, dass es heute in Palästina Kulturzentren geben soll, und wenn man zugesteht, dass sie nach einer kulturellen Tradition suchen, wird es schwerlich ein Vorwurf sein, dass es in Ramallah ein Kulturzentrum mit dem Namen diesen Mannes gibt. Den Blick auf die Entwicklung des Konfliktes mit dem Argument, er sei ja ein Antisemit gewesen, zu unterbinden, ist unproduktiv.
Zwei Narrative
Die documenta-Macherinnen und -Macher vermasselten ihr Anliegen, die Narrative des Globalen Südens zur Sprache zu bringen, selbst. Das fällt nicht in die Verantwortung der Journalisten, die das Stichwort ‚Antisemit Sakakini‘ in Umlauf brachten. Aber das unreflektierte und uninformierte Einrasten von Teilen der Öffentlichkeit auf das Schlagwort ist ärgerlich, wenn nicht gar typisch. Schließlich ginge es darum – zumindest für eine historisch-politische Menschenrechtsbildung –, beide Perspektiven, die jüdisch-israelische und das arabisch-palästinensische, darzustellen (wie es zum Beispiel auch die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus KIGA tut). Sakakini war, wenn ich Tom Segev folge, ein palästinensischer Nationalist, aber kein Antisemit. Das hat so weit niemand richtig gestellt, außer der Nahost-Historiker Jens Hanssen.
Der Historiker Segev schreibt im Dankeswort seines Buches übrigens:
Hala und Dumia Sakakini aus Ramallah gestatteten es mir, das Tagebuch ihres Vaters, des bekannten Pädagogen und Publizisten Khalil-al-Sakakini, zu lesen.