Das Koblenzer Al-Khatib-Verfahren zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien (Teil 1)

by Fin-Jasper Langmack –

Licht und Schatten eines historischen Strafprozesses

Am 13. Januar verurteilte das OLG Koblenz Anwar R. wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Folter von 4.000 Menschen, Tötung von 27 Menschen, besonders schwerer Vergewaltigung und anderen Taten zu lebenslanger Haft. Es sah es als erwiesen an, dass Anwar R. die Verhörabteilung der Abteilung 251 des Syrischen Allgemeinen Geheimdienstes leitete und damit mitverantwortlich war für unmenschliche Haftbedingungen und brutale Verhörmethoden im Damaszener Al-Khatib-Gefängnis.

Möglich machte dieses Urteil das Weltrechtsprinzip. Es erlaubt jedem Staat der Welt Völkerstraftaten zu verfolgen und zu verurteilen – unabhängig davon, ob sie einen Bezug zu dem jeweiligen Staat haben. Denn die Verfolgung dieser Straftaten steht im Interesse der Internationalen Gemeinschaft. Staaten stellen ihre Strafgewalt treuhänderisch in deren Dienst. Deutschland gehört hier zu den Vorreitern. Eigene Abteilungen im Bundeskriminalamt und beim Generalbundesanwalt (GBA) – der höchsten deutschen Staatsanwaltschaft – beschäftigen sich nur mit solchen Verfahren. Unterstützt werden sie dabei von Nichtregierungsorganisationen wie dem ECCHR, anderen europäischen Strafverfolgungsbehörden und einem eigens eingerichteten Ermittlungsmechanismus der Vereinten Nationen zu Syrien.

So beeindruckend die Ermittlungs- und Verfahrensleistung der Behörden und des Gerichts im sog. Al-Khatib-Verfahren auch war, sie erklärt nicht die Begeisterung internationaler Beobachter:innen, die das Urteil als „Meilenstein“ und „historisch“ betitelten. Diese Begeisterung zeigt, dass das Verfahren mehr war als ein normales Strafverfahren. Es war das erste Verfahren wegen Staatsfolter in Syrien; das erste Verfahren also, in dem es um Verbrechen der syrischen Regierung seit 2011 ging. Doch ist die Begeisterung gerechtfertigt?

Die zwei Logiken von Weltrechtsverfahren

Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip folgen zwei Logiken: Sie sind zunächst Strafverfahren. Damit dienen sie der Feststellung der Schuld des Angeklagten und der anschließenden Festlegung einer schuldangemessenen Strafe. Die Maximen dieses Verfahrens sind die Wahrung der Rechte des Angeklagten, Rechtssicherheit und – in der Praxis – Revisionssicherheit, also die Sicherheit, dass die nächste Instanz das Urteil nicht aufgrund von Rechtsfehlern aufhebt. Hier unterscheidet sich ein Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nur im Umfang und der Komplexität von Verfahren wegen Ladendiebstahles.

Verurteilungen von Ladendiebstahl werden aber nur selten von der internationalen Presse als Meilenstein gefeiert. Das geschieht aufgrund der zweiten Logik der Verfahren: Der Transitional-Justice-Logik. Transitional Justice bezeichnet die Aufarbeitung systematischen Unrechts, etwa nach Diktaturen oder Konflikten. Neben Strafverfahren setzen Staaten dafür auch Wahrheitskommissionen, Entschädigungen und andere Instrumente ein. Ziele der Transitional Justice sind die umfassende Ermittlung der Wahrheit, Anerkennung der Überlebenden, sowie das Schaffen von Vertrauen und Versöhnung. Häufig geschieht dies durch den direkten Austausch zwischen Täter:innen und Überlebenden, etwa in Versöhnungszeremonien. Tragende Maximen von Transitional-Justice-Prozessen sind die Teilhabe von Überlebenden und der Fokus auf die Verwirklichung ihrer Rechte.

Die einseitige Wahrheit von Strafprozessen

Bereits auf den ersten Blick offenbaren sich Spannungen zwischen den zwei Logiken. Strafprozesse sind nicht auf Teilhabe von Überlebenden gerichtet. Diese sind höchstens Nebenkläger:innen, meistens aber „nur“ Zeug:innen, deren einzige Rolle vor Gericht ihre streng reglementierte Aussage ist, ohne weiteren Einfluss auf das Verfahren. Eine Interaktion mit den Täter:innen, die zum gegenseitigen Verständnis oder sogar Versöhnung beitragen könnte, ist nicht vorgesehen. Der Wahrheitsfindung steht der rigide Rahmen des Strafprozesses teils im Weg. So haben Angeklagte starke Anreize, sich nicht umfassend zu den Taten zu äußern. Vor allem aber ist die „Wahrheit“ eines Strafverfahrens eine andere als die mit Transitional-Justice-Prozessen angestrebte.

Im Strafverfahren soll das strafbare Verhalten einzelner Personen aufgeklärt werden. Diese Perspektive filtert Informationen heraus, die für die Strafbarkeit einer Person irrelevant, für das Verständnis systematischen Unrechts aber elementar sind. Wie repressive Strukturen entstanden sind, interessiert im Strafverfahren nur insoweit als der Angeklagte an ihnen mitgewirkt hat. Welche anderen Akteure diese Strukturen gestützt haben, spielt kaum eine Rolle. Kurz: Für eine umfassende Aufklärung des Systemunrechts gibt das Strafverfahren keinen Anlass.

Zu einem gewissen Grad ist dies bei Völkerstraftaten anders, weil sie ein sog. Kontextelement beinhalten: Einzelne Taten müssen einen Zusammenhang zu größerem Systemunrecht aufweisen, um Völkerstraftaten zu werden. So sind Anwar R.‘s Taten nur deshalb als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzuordnen, weil er sie im Zusammenhang mit einem systematischen Angriff auf die syrische Zivilbevölkerung verübt hat. Dieses Erfordernis eines Kontextelementes verpflichtete das Gericht zur Feststellung, dass und wie die Regierung von Bashar Al-Assad seit spätestens Ende April 2011 systematisch die Opposition bekämpfte.

Doch auch das Kontextelement verlangt keine umfassende Aufklärung von Systemunrecht. Nur der Kontext des konkreten Verbrechens ist erheblich. Was zum Beispiel andere Geheimdienste oder das Militär zum Angriff auf die syrische Zivilbevölkerung beitrugen, interessierte das OLG Koblenz nur am Rande. Hinzu kommt, dass die Struktur von Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip die umfassende Aufklärung erschwert. Wegen des fehlenden Inlandsbezuges muss die Staatsanwaltschaft auf Täter:innen zurückgreifen, die den Tatortstaat verlassen haben. Häufig sind sie eher von niedrigem oder mittlerem Rang. Ihre Flucht drückt meist gerade die Abkehr vom System aus. Besonders deutlich wird dies bei Anwar R., der der Exilopposition anschloss und für sie an internationalen Verhandlungen teilnahm, nachdem er 2015 nach Deutschland geflohen war. Die Hauptverantwortlichen sind hingegen selten zu greifen, manchmal schützt sie auch ihr politisches Gewicht vor Verfolgung. Diese Begrenzung möglicher Angeklagter versperrt der Anklage in Weltrechtsverfahren den Weg, den z.B. Fritz Bauer im Frankfurter Auschwitz-Verfahren Mitte der 60er Jahren gegangen ist. Dort wählte er gezielt Angeklagte aus, die einen Großteil der Hierarchie des Konzentrationslagers abbildeten, um das systematische Unrecht umfassend darstellen zu können.

Aus diesen Gründen entstehen mehr als nur Lücken in der Aufklärung. Der Blick auf das Geschehene verändert sich grundsätzlich. Der Fokus auf das Individuum stellt auch dessen Handlung in den Vordergrund. Das stärkt individualistische Begründungen von Systemunrecht zulasten des Blicks auf strukturelle Bedingungen. Es fördert auch koloniale Denkmuster. Der Menschenrechtler Mutua hat eine grundlegende Metapher im Menschenrechtsdiskurs identifiziert: Der Globale Norden trete als „Retter“ unschuldiger „Opfer“ vor „Wilden“ auf, beide aus dem Globalen Süden. Neben ihrem progressiven und schützenden Potenzial drohten Menschenrechte so stets auch neuerliche „Zivilisierungsmissionen“ des Globalen Nordens zu legitimieren. Beim Völkerstrafrecht, das eng mit Menschenrechten zusammenhängt, ist das ähnlich. Ein Gericht des Globalen Nordens verurteilt einen Täter aus dem Globalen Süden im Namen von dessen Opfern. Nicht zur Sprache kommt, dass der Globale Norden nur sehr selektiv „rettet“ – die Verfolgung politisch mächtiger Akteure und Verbrechen des Globalen Nordens, z.B. Folter durch die US-amerikanische CIA bleibt aus. Ausgeblendet wird auch, wie der Globale Norden Konflikte im Globalen Süden mit verursacht und fördert. Die meisten Konflikte sind nur unter Berücksichtigung der Kolonialvergangenheit der betroffenen Staaten und fortdauernder kolonialer Strukturen verständlich. Dass Unternehmen des Globalen Nordens von diesen Konflikten profitieren und sie – z.T. mit Genehmigung der Regierungen des Globalen Nordens, etwa im Falle von Waffenexporten – fördern, gehört genauso zur Wahrheit der Konflikte wie die Taten Einzelner.


Fin-Jasper Langmack ist ehemaliger Praktikant am NMRZ. Zurzeit ist er Doktorand am Institut für Friedenssicherungsrecht der Universität Köln und Rechtsreferendar am Kammergericht in Berlin. Als Mercator-Fellow arbeitete er u.a. beim Internationalen Strafgerichtshof und später bei Amnesty International. Im Jahr 2020 arbeitete er im Rahmen des Mercator-Kollegs für internationale Aufgaben auch beim European Center for Constitutional and Human Rights, für das er an mehreren Prozesstagen das Al-Khatib-Verfahren beobachtete und Nebenklageanwälte unterstützte. Dieser Beitrag spiegelt nur die privaten Ansichten des Autors wider.

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