Gestern auf dem Wochenmarkt in meinem Stadtviertel: Ungefähr zehn Menschen stehen Schlange vor dem Fischstand, etwas weniger vor der Metzgerei. Die Schlangen vor dem Bäcker und dem Gemüsestand, haben sich kunstvoll umeinander „geschlängelt“, damit sie sich nicht in die Quere kommen. Alles immer schön mit ca. 2 m Abstand, einige mit Mundschutz, andere nicht, Polizei war keine da.
Neulich in Berlin und anderswo: Zwischen 1 und 1 Dutzend Personen stehen auf einem Platz, brave zwei Meter Abstand, alle mit Mundschutz. Polizei war da und forderte barsch zum Verschwinden auf. Was war der Unterschied?
Meinungsfreiheit braucht den öffentlichen Raum
In Berlin und anderswo hielten die Abstand haltenden und Mundschutz tragenden Menschen Pappschilder in der Hand, auf denen z.B. stand LEAVE oder NO oder ONE oder BEHIND. Zusammen hatten die Einzelnen also auch eine Meinung. Die Polizei unterband das Herumstehen dieser meinungshabenden Personen, und im Fall Berlins bestätigte auch das Verwaltungsgericht erstinstanzlich dieses Vorgehen, und das, obwohl in Berlin sogar vom Senat Versammlungen bis zu 20 Personen unter bestimmten Umständen erlaubt waren. Zum Glück gibt es auch andere Gerichte, die sich in ähnlichen Fällen bisher an die sehr strengen Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts für die Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit halten. Und am 16. April hat auch das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss (Aktenzeichen 1 BvR 828/20) festgestellt, dass Demonstrationsverbote nicht aufgrund genereller Verbote, sondern nur in Abwägung der Umstände des Einzelfalls, also insbesondere der Möglichkeit, Hygienebestimmungen einzuhalten, möglich sind. Damit aus dem Mundschutz kein Maulkorb wird.
Nach dem Grundgesetz ebenso wie nach der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte ist das Recht auf Meinungsfreiheit besonders stark geschützt. Meinungsfreiheit geht aber über das eigene Hirn hinaus, d.h. es muss auch das Mitteilen und Verbreiten der Meinung geschützt sein, u.a. durch die Pressefreiheit und die Demonstrations- bzw. Versammlungsfreiheit. Vor allem letztere kann allerdings aus guten Gründen auch in konkreten Fällen beschränkt werden.
Grenzen der Versammlungsfreiheit – und ihre Grenzen
Der Schutz vor einer Epidemie ist gewiss ein solcher guter Grund. Er berechtigt aber nicht zu pauschalen Verboten. Es gelten vielmehr die Prinzipien der Notwendigkeit, der Zielgerichtetheit und der Verhältnismäßigkeit, mit denen die Einschränkung solch elementarer Grundrechte begründet werden muss.
Notwendigkeit heißt, es muss geprüft werden, ob die Einschränkung wirklich nötig ist, um das gefährdete andere hohe Gut, in unserm Fall also den Schutz vor einer Ausbreitung der Epidemie, zu erreichen. Keinesfalls geht es bei dieser Prüfung darum, ob die Demonstration oder Versammlung nach Auffassung der Polizei oder des Gerichts notwendig oder sinnvoll ist, wie es in einigen Fällen schon versucht wurde.
Zielgerichtetheit meint, dass geprüft werden muss, ob die getroffene Einschränkung überhaupt dem genannten Ziel dienlich ist. Ob also in unserm Fall das Herumstehen in angemessenem Abstand, mit Tuch vor dem Mund und Pappschild in der Hand, wirklich die Ausbreitung des Virus fördert und damit umgekehrt ein Verbot der Erhaltung der Gesundheit dient.
Verhältnismäßigkeit schließlich bedeutet die Frage, ob die durch die staatliche Maßnahme bewirkte Grundrechtseinschränkung in einem akzeptablen Verhältnis zum erreichbaren Schutz der Grundrechte anderer steht. Im Fall der Corona-Pandemie wird ein Verbot, nach ganz überwiegender wissenschaftlicher Erkenntnis über den Verlauf der Ansteckungswege, z.B. für Fußballspiele oder Karnevalsumzüge, und sicher auch für politische Großdemonstrationen verhältnismäßig sein. Aber auch für eine Ein-Personen-Demonstration (auch eine solche ist schon untersagt worden)? Auch wenn, wie auf einem über dpa verbreiteten Bild aus Frankfurt am Main zu sehen war, ein mundschutztragender Demonstrant von zwei Polizisten ohne Mundschutz im Klammergriff abgeführt wird? Hier stellt sich nicht nur die Frage nach der Verhältnismäßigkeit, sondern natürlich auch, ob ein solch schmerzhaft enger Körperkontakt denn zielführend ist, die Infektionsketten zu unterbrechen?
Ohne freie Meinungsäußerung keine Demokratie
Solche und ähnliche Fragen zu stellen, ist nicht nur nach unserer Verfassung legitim, es ist in einer demokratischen Gesellschaft auch absolut notwendig und sollte von PolitikerInnen daher selbst nur rhetorisch nicht niedergebügelt werden („Dies ist nicht die Zeit zum Diskutieren sondern zum Handeln“).
Auch die Medien, die ihre Rolle als Vermittler der Gefahrensituation und der geeigneten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ja zum großen Teil sehr positiv nachkommen, dürfen sich den kritischen Nachfragen nicht verschließen. In Deutschland können sie dies ohne Gefahr tun. Ein Blick aber in die Berichte von Menschenrechtsorganisationen wie z.B. von Reporter ohne Grenzen zeigt uns, wie vielerorts der Deckmantel des Gesundheitsschutzes im Rahmen ohnehin vorhandener autoritärer Tendenzen zu neuen massiven Einschränkungen der Pressefreiheit missbraucht wird. Bekannt sind die Fälle aus China, wo selbst der fachliche Hinweis auf die Gefahr von Covid-19 als „Gerüchtemacherei“ verfolgt wurde, oder in den USA, wo Präsident Trump alle kritischen Berichte als fake-news brandmarkte. Unter dem Stichwort „Virus gegen die Pressefreiheit“ nennt Reporter ohne Grenzen aber auch die Verfolgung von JournalistInnen, die über die „Coronakrise“ berichten, in Thailand, Turkmenistan, Ägypten, Iran, Nigeria, Liberia, Kamerun, Madagaskar, Elfenbeinküste, Südafrika, Mali, Kongo und – fast hätte ich gesagt, natürlich – der Türkei. Andere Quellen berichten Ähnliches aus Honduras, Brasilien, Kirgistan, Aserbeidschan, Ukraine, Russland, Belarus, Moldawien, Ungarn, Myanmar, Kambodscha, Malaysia.
Die Liste dürfte kaum vollständig sein. Sie macht deutlich, dass der Missbrauch des – meist ohnehin gar nicht gewährleisteten – Gesundheitsschutzes für Einschränkungen der Meinungsfreiheit und anderer politischer Rechte eine reale Gefahr ist. Für die bedrohten JournalistInnen in weiten Teilen der Welt, aber auch für die Eindämmung der Pandemie. Denn nur wo Medien in Freiheit die gesundheitspolitischen Maßnahmen aufmerksam beobachten und darüber kritisch berichten können, werden die Menschen das Vertrauen haben, die notwendigen zeitweisen Einschränkungen ihrer Freiheiten auch anzunehmen.
Rainer Huhle
Zum Weiterlesen:
- Reporter ohne Grenzen – https://www.reporter-ohne-grenzen.de
- Gesellschaft für Freiheitsrechte – https://freiheitsrechte.org/
- BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 15. April 2020 – 1 BvR 828/20 -, Rn. (1-19), http://www.bverfg.de/e/rk20200415_1bvr082820.html