Kitas und Schulen schließen, Läden und Restaurants ebenso, keine Theater und Konzerte mehr, ja nicht einmal Fußball und Oktoberfest. Das alles muss zurückstehen, im Dienst unserer höchsten Güter: Leben und Gesundheit. Denn der Erhaltung von Leben und Gesundheit, so hören wir, ist alles andere unterzuordnen. Und was zunächst nur wie weitere Sonntagsreden geklungen haben mag, wird plötzlich ernst. Geld scheint keine Rolle mehr zu spielen, und Maßnahmen, die gestern noch unmöglich schienen, sind heute Wirklichkeit. Warum nehmen die meisten von uns all diese einschneidenden Veränderungen unseres persönlichen und gesellschaftlichen Lebens zustimmend an?
Weil Gesundheit ein hohes Gut für uns alle ist. Mehr noch, sie ist ein Menschenrecht:
Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet; er hat das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder von anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.
So heißt es im Artikel 25 (1) der Universellen Erklärung der Menschenrechte. Artikel 28 der Erklärung fügt diesen Rechten noch eine internationale Dimension hinzu:
Jeder Mensch hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.
Das Menschenrecht auf Gesundheit – ein komplexes Recht
Aus diesen Rechten der Menschen leitet sich die Pflicht der Staaten ab, einzeln und gemeinsam die Voraussetzungen zu schaffen, dass wir diese Rechte verwirklichen können. Aber was soll dieses Recht auf Gesundheit eigentlich bedeuten? Ist es ein Recht, nicht krank zu werden? Das wäre ein absurdes Recht, so sinnlos, wie wenn wir aus dem Recht auf Leben ein Recht, nicht zu sterben machen würden. Der Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966, den Deutschland auch ratifiziert hat, definiert das Recht auf Gesundheit daher so:
Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit.
Artikel 12 (1)
Der UN-Ausschuss für Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte, der diesen Pakt überwacht, hat über dieses „Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit“ eine sehr ausführliche „Allgemeine Bemerkung“ (das heißt eine verbindliche Interpretation) verfasst, die gleich zu Beginn auf das Entscheidende verweist: Dass dieses Recht eine Voraussetzung ist, um ein Leben in Würde zu führen.[1]
Eine der Schwierigkeiten, wenn wir vom Recht auf Gesundheit oder vom Schutz der Gesundheit reden, ist ja dass „gesund“ und „krank“ nicht immer eindeutige Begriffe sind. Ob jemand sich gesund oder krank fühlt, hängt von vielen, auch psychischen Umständen ab, und auch die Ärzte können da unterschiedliche Meinungen haben. Nicht zuletzt aus der Behindertenrechtsbewegung haben wir ja auch gelernt, dass niemand perfekt ist. Ein staatliches Gesundheitssystem, das dem Anspruch des Artikels 25 der Menschenrechtserklärung gerecht werden will, muss also immer entscheiden, was es zu behandeln hat und wo die Schwerpunkte gesetzt werden müssen. Daran ist keine grundsätzliche Kritik anzubringen, was es aber zu hinterfragen gilt, sind die Kriterien für diese Schwerpunktsetzungen.
Wie setzen wir Prioritäten – und wer ist wir?
Das ist in der Coronakrise so deutlich wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik geworden. Noch nie haben die Behörden so radikal alle Ressourcen für die Bekämpfung einer einzigen Krankheit mobilisiert. Die Begründung dafür hat den meisten Menschen eingeleuchtet: Das Virus ist so ansteckend und seine Auswirkungen so zerstörerisch, dass seine Unterdrückung – was immer das im einzelnen bedeuten mag – höchste Priorität haben muss. Priorität aber heißt, dass es auch noch anderes gibt, an dem sich das Priorisierte misst und das deswegen nicht einfach ignoriert werden kann.
Die Maßnahmen, die die verschiedenen politischen Entscheidungsträger und Behörden mit diesem Ziel getroffen haben, gehen, wie wir täglich erleben, weit über das Gesundheitssystem – das ja im wesentlichen ein Krankheitsreparatursystem ist – hinaus und greifen in praktisch alle gesellschaftlichen Zusammenhänge ein. Wenn es also eines Beweises bedurft hätte, dass Gesundheit etwas sehr komplexes ist und damit auch von sehr komplexen Voraussetzungen abhängt, dann hat das umfassende Bündel von Maßnahmen zur Virusbekämpfung ihn glänzend erbracht. Gesundheit wird eben nicht in Krankenhäusern produziert, sondern in gesunden Lebensverhältnissen. Die aber sind von großer Ungleichheit für verschiedene Menschengruppen geprägt. Gleich ist das Virus nur insofern, als derzeit niemand sich absolut davor schützen kann. Sehr ungleich sind dagegen die Bedingungen, unter den die Menschen das „Höchstmaß“ an Schutz vor dieser Erkrankung (und natürlich auch allen anderen) erlangen können. Wer in prekären Flüchtlingslagern, in Schlafcontainern als Saisonarbeiter oder in Elendssiedlungen ohne geregelte Trinkwasserversorgung und sanitäre Einrichtungen leben muss, ist durch Epidemien ungleich stärker verwundbar. Das Recht auf Gesundheit unterliegt aber, wie jedes Menschenrecht, dem Gleichheitsgrundsatz: es muss für alle Menschen gleichermaßen gelten.
Das Recht auf Gesundheit steht nicht allein
Die Verletzung des Rechts auf Gesundheit für unzählige Menschen in aller Welt ist selbst Folge von weiteren Menschenrechtsverletzungen. Sehr bewusst ist das Recht auf Gesundheit im zitierten Artikel 25 der Menschenrechtserklärung in den Zusammenhang der Rechte auf Nahrung, Kleidung und Wohnung, also der elementaren menschlichen Grundbedürfnisse und auch der „sozialen Fürsorge“ gestellt. Auf die gegenwärtige Krise bezogen heißt das, dass dem Virus eben nicht nur mit mehr Beatmungsmaschinen und Intensivbetten begegnet werden darf, sondern dass auch die Coronakrise „systemisch“, also mit Blick auf all die anderen Bedingungen für Krankheit und Gesundheit angegangen werden muss. Die Diskussion, die jetzt unter dem Stichwort „Lockerungen“ geführt wird, darf nicht auf das Corona-Virus fixiert bleiben, sondern muss die Weichen stellen für eine Gesundheitspolitik, die alle gesellschaftlichen Bereiche auf den Prüfstand stellt, ob sie das uns verbürgte Recht auf ein „Höchstmaß an Gesundheit“ fördern oder zerstören.
Rainer Huhle
[1] Eine deutsche Übersetzung dieser „Allgemeinen Bemerkung“ findet sich in dem Band Die „General Comments“ zu den VN-Menschenrechtsverträgen, den das Deutsche Institut für Menschenrechte 2005 im Nomos-Verlag Baden-Baden herausgegeben hat. Online ist sie nachlesbar im Anhang des von Andreas Frewer und Heiner Bielefeldt herausgegebenen Buches „Das Menschenrecht auf Gesundheit“ (transcript-Verlag Bielefeld), in dem auch Michael Krennerich vom NMRZ in einem ausführlichen Aufsatz das Menschenrecht auf Gesundheit erläutert.