Die Bezeichnung Wahlkampf hat nicht ohne Grund etwas Gewaltsames an sich: Die politischen Gegner*innen attackieren sich, suchen die Schwächen der Gegenseite und durchleuchten auch gerne mal das Privatleben des Gegenübers, wenn das öffentlich Bekannte keine ausreichenden Angriffspunkte bietet. Auch die Taktik, ein Feindbild heraufzubeschwören, gegen das der gemeinsame Kampf geboten ist, gehört zum Standardrepertoire. Ebensolche Angriffe und Feindbilder gehörten auch zum Präsidentschaftswahlkampf in Polen und sollen hier nicht in der Breite dargestellt werden. Stattdessen soll es um eine zentrale, wenn nicht die wichtigste, Säule im Wahlkampf des Amtsinhabers Andrzej Duda gehen: der Kampf gegen LGBTIQ*-Rechte.
Duda ist seit 2015 Präsident der Republik Polen und trat zu Beginn seiner Amtszeit als Geste der Überparteilichkeit aus der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) aus. Programmatisch blieb er jedoch der konservativen Parteilinie treu. PiS sicherte sich bei den Wahlen 2019 erneut die Parlamentsmehrheit, auch dieser Wahlkampf war geprägt vom Bekenntnis zu „traditionellen Familien“ und von der Ablehnung gleichgeschlechtlicher Ehen.
Polen ist Schlusslicht im LGBTIQ*-Ranking der EU-Staaten
Die internationale Nichtregierungsorganisation ILGA-Europe setzt sich europaweit für LGBTIQ*-Rechte ein und erstellt seit 2009 jährlich die sogenannte „Rainbow Map“.
Die Karte stellt die rechtliche Situation von LGBTIQ*-Personen in den verschiedenen europäischen Ländern dar. ILGA-Europe untersucht die Gesetzgebung in den Kategorien Gleichberechtigung und Nicht-Diskriminierung, Familie, Hassverbrechen und Hate Speech, Rechtliche Anerkennung des Geschlechts und körperliche Unversehrtheit, Gestaltungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft sowie Asylrecht und erstellt auf dieser Basis ein Ranking. Polen belegte 2019 den letzten Platz der EU-Staaten.
Lokalregierungen rufen „Zonen frei von LGBT-Ideologie“ aus
Bereits Anfang 2019 machte die Situation der LGBTIQ*-Gemeinde in Polen internationale Schlagzeilen, als sich erste Gemeinden als „Zonen frei von LGBT-Ideologie“ erklärten. Die Aktion wurde ursprünglich von der ultrarechten Zeitung Gazeta Polska initiiert, die ihren Ausgaben „Frei von LGBT-Ideologie“-Sticker beigelegt hatte. Innerhalb eines Jahres erklärten sich rund 100 Gemeinden, Kreise und Provinzen als „Zonen frei von LGBT-Ideologie“.
EU-Institutionen verurteilen Diskriminierung der LGBTIQ*-Gemeinde
Bereits im Dezember 2019 verabschiedete das Europäische Parlament eine Entschließung „zur öffentlichen Diskriminierung von und Hetze gegen LGBTI-Personen sowie zu LGBTI-freien Zonen“. Darin forderten die Abgeordneten, dass EU-Gelder nicht für die Diskriminierung von Minderheiten verwendet werden dürften. Ein Großteil der polnischen Gemeinden, die sich „frei von LGBT-Ideologie“ erklärten, liegt im Südosten Polens; einem Gebiet, das mit Mitteln aus dem europäischen Strukturfonds gefördert wird.
Im Juni 2020 schaltete sich auch die Europäische Kommission ein und schrieb an die Vorstände der fünf „LGBT-freien“ Provinzen, sie sollten berichten, ob die Bezeichnung als „frei von LGBT-Ideologie“ und die Unterzeichnung der Familien-Charta diskriminierende Handlungen waren.
Bezirke, die Geld aus dem europäischen Strukturfonds erhalten, müssen sich dabei an europäische Werte halten. Die Richtlinien zur Vergabe von EU-Fördermitteln besagen:
„Die Mitgliedstaaten und die Kommission treffen die erforderlichen Maßnahmen gegen jede Form der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Rasse oder ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung während der Vorbereitung und Durchführung der Programme“
Auch die EU-Gleichstellungskommissarin Helena Dalli verurteilte die Beschlüsse und warnte vor möglichen Folgen:
„We cannot allow the distribution of LGBTI free zone stickers, or the adoption of anti-LGBTI resolutions and not feel responsible for the next phase where physical attacks that take place, even if they are then carried out by other people”
Wahlkampf gegen LGBTIQ-Rechte
Diskriminierung gegen LGBTIQ*-Personen sowie LGBTIQ*-feindliche Rhetorik war also schon vor den Präsidentschaftswahlen verbreitet in polnischen Regierungskreisen. Dennoch erlangte das Heraufbeschwören einer Bedrohung durch „LGBT-Ideologie“ eine zunehmende Schärfe im Präsidentschaftswahlkampf.
Einige Beispiele dafür sind:
Duda nennt LGBT-Ideologie die „Ideologie des Bösen“
Als Reaktion auf die Kritik aus Brüssel zitierte Duda den in Polen verehrten Papst Johannes Paul II. mit den Worten, die LGBT-Bewegung sei eine „Ideologie des Bösen“.
Abgrenzung zum „Pride-Kandidaten“
Nachdem die für Mai geplanten Präsidentschaftswahlen aufgrund der Corona-Pandemie auf Juni verschoben wurden, benannte die Bürgerplattform (PO) Rafał Trzaskowski als neuen Kandidaten. Diese Personalentscheidung kann als einer der Gründe für Dudas Fokus auf die angebliche LGBT-Bedrohung Polens gesehen werden, da Trzaskowski als Fürsprecher von LGBTIQ*-Rechten gilt. Als Warschauer Stadtoberhaupt hatte er eine Erklärung zum Schutz von LGBTIQ*-Rechten veröffentlicht und wollte LGBTIQ*-Themen auch in die Lehrpläne für den Sexualkundeunterricht an Warschauer Schulen aufnehmen. Nach Bekanntgabe seiner Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen zeigte ihn die Zeitung Gazeta Polska auf dem Titelbild vor einer Regenbogenfahne unter der Schlagzeile „Der Kandidat der Gleichheits-Parade“, eine Anspielung auf die Pride-Demonstrationen in Warschau.
Die Wahl „zwischen einem weiß-roten und einem regenbogenfarbenen Polen“
In einem Interview sagte der PiS-Politiker Krzysztof Sobolewski, die Präsidentschaftswahlen würden darüber entscheiden, ob Polen unter dem amtierenden Präsidenten nationalen Traditionen verbunden bleibe, oder ob es sich unter Führung der Opposition in eine gefährliche Richtung bewege. Die Menschen in Polen hätten die Wahl zwischen einem „weiß-roten und einem regenbogenfarbenen Polen.“
Deutlicher hätte Sobolewski wohl nicht sagen können, dass Feindbilder im Wahlkampf der Regierungspartei eine Schlüsselrolle spielen sollten. Denn „weiß-rot“ gegen „regenbogenfarben“ bedeutet Polen gegen LGBTIQ*, Patriotinnen und Patrioten gegen Eindringlinge, eigene Identität gegen fremde Einflussnahme. Dass die Regenbogenfahne keine Staatsflagge ist und es damit faktisch keine „entweder oder“ Entscheidung geben kann, spielte bei dieser Kampfansage keine Rolle.
Duda verspricht, „Kinder vor LGBT-Ideologie zu schützen“
Im Wahlkampf wandte sich Duda mit der Veröffentlichung einer „Familien-Charta“ mit mehreren Versprechen direkt an Familien. Viele Versprechen beinhalteten mehr finanzielle Unterstützung für Familien. Ebenso versprach Duda jedoch, die Institution der Ehe als Verbindung zwischen Frau und Mann zu schützen, sowie „Kinder vor LGBT-Ideologie zu schützen.“ Die Charta schließt eine Adoptionsmöglichkeit durch gleichgeschlechtliche Paare aus, die Duda bei einem offiziellen Termin zur „Familien-Charta“ als „ausländische Ideologie“ bezeichnete. Damit sprach er homosexuellen Paaren nicht nur die rechtliche Möglichkeit zur Adoption ab, sondern behauptete ebenso, dass der Wunsch zur Adoption nicht von den Paaren selbst stamme und ihnen von obskuren ausländischen Kräften indoktriniert worden sei.
Adoptionsverbot für gleichgeschlechtliche Paare soll in die Verfassung
Anfang Juli ging Duda mit seiner Ablehnung von Adoptionen durch homosexuelle Paare noch einen Schritt weiter und kündigte an, eine Verfassungsänderung einzuleiten, die solche Adoptionen verbietet. Er sprach von einer „Versklavung“ der Kinder, man würde mit ihnen „experimentieren“. Bezeichnend für die Bedeutung dieses Themas im Wahlkampf war die folgende Versicherung Trzaskowskis, dass er Adoptionen durch gleichgeschlechtliche Paare ebenfalls ablehne. Hatte er sich in Warschau noch aktiv für mehr Rechte der LGBTIQ*-Gemeinde eingesetzt, wagte er im Wahlkampf nicht, sich klar zu diesem Engagement zu bekennen. Tatsächlich äußerte sich einzig der Kandidat der Linken Robert Biedrón als offener Fürsprecher der LGBTIQ*-Gemeinde. Er war jedoch mit Wahlprognosen von rund vier Prozent lediglich ein Außenseiter im Rennen um die Präsidentschaft.
Polnischer Bischof spricht von „regenbogenfarbener Seuche“
Auch Vertreter der katholischen Kirche machten im Wahlkampf Stimmung gegen LGBTIQ*-Personen. So sprach der Krakauer Erzbischof Marek Jędraszewski in einer Predigt von der „regenbogenfarbenen Seuche“ der LGBT-Bewegung, die er mit der „roten Seuche“ des Kommunismus in Polen verglich. Eine wichtige strategische Rolle in der Anti-LGBTIQ*-Kampagne spielte auch die ultrarechte Stiftung Instytut Ordo Iuris, die einen Mustertext für eine „Kommunale Charta der Familienrechte veröffentlichte, die viele Lokalregierungen für ihre Erklärung als „Zonen frei von LGBT-Ideologie“ verwendeten.
Kritik der OSZE: „Rhetorik beeinflusste den Wahlkampf“
Laut einer Analyse der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) war die Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders TVP während des Wahlkampfes nicht ausgewogen. Duda sei bevorzugt worden, über dessen Herausforderer Trzaskowski sei hauptsächlich negativ berichtet worden.
Reporter ohne Grenzen: „Aufwiegelung im öffentlichen Fernsehen“
In der Woche vor den Präsidentschaftswahlen zeigte sich die Nichtregierungsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ besorgt über den Zustand der Pressefreiheit in Polen. Das öffentliche Fernsehen berichte einseitig über den Amtsinhaber Duda und schüre Ressentiments gegenüber seinem Herausforderer Trzaskowski. Ein besonderer Tiefpunkt sei ein Anfang Juni ausgestrahlter Beitrag gewesen, in dem unterstellt wurde, dass Trazaskowski einer „mächtigen ausländischen Lobby“ diene. Reporter ohne Grenzen sprach von einer „Aufwiegelung im öffentlichen Fernsehen“. Außerdem habe der öffentliche Fernsehsender TVP bereits vor den Parlamentswahlen im Oktober 2019 in einer Dokumentation mit dem Titel „Invasion“ Stimmung gegen die LGBTIQ*-Community gemacht. Der Beitrag suggerierte, dass LGBTIQ*-Aktivist*innen in Wahrheit dubiose ausländische Interessen vertreten und dem polnischen Staat schaden wollen würden.
Das Ergebnis: Kein Gewinn für die Menschenrechte
Der Wahltag am 28. Juni brachte keine große Überraschung: Duda holte mit 42 Prozent die meisten Stimmen, erreichte aber keine absolute Mehrheit. In der Stichwahl am 12. Juli verteidigte Duda mit knapper Mehrheit das Präsidentenamt. Die Strategie, für seinen Wahlkampf einen imaginären Feind zu schaffen und eine Personengruppe bewusst zu diskreditieren und als gesellschaftliche Bedrohung darzustellen, zahlte sich aus. Dass sich bis auf eine Ausnahme keiner der anderen Kandidaten dazu entschließen konnte, für die Rechte dieser Menschen öffentlich einzutreten, ist entsetzlich. Noch schlimmer ist eigentlich nur, dass dieser Angriff auf die Menschenrechte die Mehrheit der Wähler*innen nicht abgeschreckt hat.
Dabei gibt es auch gute Nachrichten: Die Zahl der Pol*innen unter 30 Jahren, die Homosexualität akzeptieren, stieg 2020 auf 60 Prozent. Insgesamt akzeptieren in Polen allerdings weiterhin weniger als die Hälfte der Befragten (47 Prozent) Homosexualität. Das Heraufbeschwören einer „Bedrohung durch LGBT-Ideologie“ scheint dagegen erfolgreich zu sein: In einer Umfrage gaben 31 Prozent der Männer unter 40 Jahren an, dass die „LGBT-Ideologie“ die größte Bedrohung sei (noch vor dem Klimawandel und der Bedrohung durch Russland).
Die traurige Wahrheit ist, dass die LGBTIQ*-feindliche Rhetorik (nicht nur im Wahlkampf) für die LGBTIQ*-Gemeinde zu realen Bedrohungen führte. ILGA resümierte im Länderbericht 2019:
„Hateful rhetoric from the government and the Church, and violence at Pride marches went hand-in-hand this year“
Einige Städte versuchten, Pride-Demonstrationen zu verbieten. Kundgebungen, die stattfanden, wurden von gewaltsamen Gegendemonstrationen begleitet. In Białystok warfen Extremisten Rauchbomben und Flaschen auf die LGBTIQ*-Teilnehmer*innen, mehrere wurden angegriffen und verprügelt.
Duda bemühte sich stets zu betonen, dass sich seine Ablehnung nicht gegen LGBTIQ*-Menschen richte, sondern lediglich gegen die „LGBT-Ideologie“. Tatsächlich geht es natürlich um die konkreten rechtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen für das Leben von LGBTIQ*-Personen in Polen. Eine Verbesserung ihrer Situation durch die Regierung ist nicht in Sicht. Die Hoffnung liegt also einmal mehr auf der Zivilgesellschaft. Nur mit Aufklärung können Hass und Angst gegenüber einer als Bedrohung wahrgenommenen Gruppe besiegt werden. Dazu können weitere friedliche Pride-Kundgebungen und Informationskampagnen einen Beitrag leisten.
Hinweis: LGBTIQ* bezieht sich auf lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche sowie queere Menschen. Das beistehende Sternchen (*) verweist auf unterschiedliche Selbstdefinitionen und Identitäten jenseits heteronormativer Vorstellungen, die explizit einbezogen werden. An einigen Stellen wird in diesem Artikel stattdessen aufgrund des Originalkontextes die Bezeichnung „LGBT“ verwendet (z.B. bei den Zonen „frei von LGBT-Ideologie“).