Vor zwölf Jahren, im Sommer 2013, führten mich Angehörige von Verschwundenen und lokaler Menschenrechtsorganisationen in der von der Gewalt besonders heimgesuchten Comuna 13 von Medellín auf einen Hügel oberhalb des Viertels. Von oben bot sich eine eindrucksvolle Rundsicht auf die Stadt Medellín, eingebettet in das Tal von Aburrá. Doch nicht dieses Panorama war der Grund des Besuchs, sondern der Blick direkt hinunter auf einen riesigen Müllberg – auf spanisch „La Escombrera“. Dort unten, wurde mir erklärt, unter dem Müll von vielen Jahren liegen unsere verschwundenen Angehörigen. Eine unfertige Erinnerungstafel machte den Aussichtspunkt zum tristen Gedenkort für die bis heute nicht bekannte, aber auf über fünfhundert geschätzte Zahl von Opfern dieser Verbrechen allein in La Escombrera, während eine endlose Schlange von LKWs weiter Müll den Berg hinaufschaffte.

Die Forderung der Angehörigen war auch hier, wie überall, dass nach den Verschwundenen gesucht, sie identifiziert und ihren Familien zur Bestattung übergeben werden müssten. Doch wie das bei diesem gigantischen Müllberg je geschehen sollte, konnte sich so recht niemand vorstellen.
Im März 2025 war ich erneut in Medellín. Und seither war viel geschehen. Die Sonderjustiz für den Friedensprozess – JEP – hatte den Teil von La Escombrera, wo die Beobachtungen der Angehörigen und der Bewohner der Comuna 13, aber auch erste forensische Erkundungen vermuten ließen, dass dort Opfer des Verschwindenlassens gefunden werden könnten, zum Sperrgebiet erklärt. Das Mittel dazu sind die „medidas cautelares“, Schutzmaßnahmen, die die JEP nicht nur für Personen, sondern ebenso für Objekte und Örtlichkeiten wie Friedhöfe oder in diesem Fall eben eine Müllhalde erlassen kann, damit dort die zuständigen Behörden ungestört und sicher nach den Verschwundenen suchen können. Dies geschah im August 2020, nach umfangreichen Voruntersuchungen mit Hilfe der Angaben der Angehörigen und der OrtsbewohnerInnen, Analysen von Luftaufnahmen und Bodenuntersuchungen erfolgten in den so definierten ca. 7000 qm erste Grabungen durch die Behörde zur Suche nach vermutlich Verschwundenen (UBPD). Im Dezember 2024 hat diese Suche erste Ergebnisse gebracht: Die sterblichen Überreste von mindestens vier Personen wurden gefunden, zwei davon konnten vom zuständigen gerichtsmedizinischen Institut (Medicina Legal) bereits identifiziert werden.
Bei meinem Besuch des Grabungsfelds im März 2025 in Begleitung der UBPD, der JEP und örtlicher Menschenrechtsorganisationen bot sich ein in jeder Hinsicht anderes Bild als 2013. Vor dem eigentlichen Sperrgebiert waren eine Reihe von Zeltplanen aufgestellt. Unter einer war eine Gruppe von Frauen versammelt, Angehörige der Verschwundenen mit ihrer Anwältin, die sich dort täglich abwechselten, um ihr Recht auf Teilnahme an der Suche wahrzunehmen. Häufig gesellen sich auch VertreterInnen der Menschenrechtsorganisationen dazu, die die Angehörigen über die mehr als zwei Jahrzehnte begleitet haben. Unter einem anderen Zeltdach waren forensische Anthropologen der UBPD mit der Siebung von Erde beschäftigt, in denen eventuell noch Splitter von Skeletten oder andere Indizien vorhanden waren, die zur Identifizierung von verschwundenen Personen und auch der Feststellung der Todesursachen dienen konnten. Auch die JEP, an diesem Tag in Person einer beigeordneten Richterin des Falles, fährt regelmäßig auf das Grabungsgelände, das unter ihrer Aufsicht steht.

Das eigentliche Grabungsfeld liegt unterhalb dieses Eingangsbereichs. Dort muss, angesichts des riesigen Areals, mit schwerem Gerät gearbeitet werden.

Das ist keineswegs die ideale Vorgehensweise, können dabei doch Knochenreste zerstört werden und Information über die Lage der Skelettreste verloren gehen. In Abwägung der Vor- und Nachteile, so versichern die forensischen Anthropologen, hält man diese Methode für vertretbar. Denn die Baggerführer wurden sorgfältig geschult, und bei einem Eingriff in bisher unberührtes Terrain begleitet ein/e Forensiker/in jede Bewegung der Maschine und interveniert, wenn Auffälligkeiten zutage treten. Dann wird das Erdreich händisch vorsichtig abgenommen und zur Feinsiebung nach oben gebracht.

Vier gefundene sterbliche Überreste von über fünfhundert allein aus der Comuna 13 Verschwundenen bzw. von derzeit insgesamt in Kolumbien gesuchten 124.734 Personen ist offensichtlich eine Zahl, die niemanden befriedigen kann. Und dennoch spürte ich in meinen Gesprächen mit allen Beteiligten eine Aufbruchsstimmung, ein Gefühl, dass endlich etwas vorankommt. Vielleicht liegt der Grund auch in dem, was mich am meisten beeindruckte: Ein ganz neuer Geist der Kooperation. In einer Studie, die ich vor einigen Jahren mit meinen Kolleginnen Verónica Hinestroza (Kolumbien) und Iris Jave (Peru) über die Institutionen zur Suche nach Verschwundenen in verschiedenen Ländern unternahm, war ein hervorstechender Befund, dass die verschiedenen staatlichen Behörden untereinander meist nicht kooperierten, und erst recht nicht angemessen mit den Organisationen der Familienangehörigen. Für Kolumbien stellten wir schon damals deutlich mehr Kooperation fest, nicht zuletzt, weil das Friedensabkommen mit seinem Institutionenverbund (Sistema Integral de Verdad, Justicia, Reparación y No Repetición) von Wahrheitskommission (bereits abgeschlossen), JEP und UBPD eine auch normative Grundlage für die Kooperation bei der Suche nach Verschwundenen vorgab. Dennoch gab (und gibt es) auch in Kolumbien viel Nebeneinander und Bestehen auf jeweiligen Kompetenzen in Abgrenzung von anderen Institutionen. Genau das Gegenteil ist in Medellín zu sehen: Wie JEP, UBPD, Angehörige und Menschenrechtsorganisationen ihre jeweiligen Stärken und Kompetenzen zusammenführen, ständig und kollegial miteinander kommunizieren und ihr gemeinsames Ziel, die Suche nach den Verschwundenen und die Aufklärung des Geschehenen nicht aus dem Auge verlieren, gibt Hoffnung. Der „Humanitäre Auftrag“ (misión humanitaria), der auf jeder Jacke der UPBD-MitarbeiterInnen prangt, deutet auf das begrenzte Mandat dieser Einrichtung: Es ist nicht ihre Aufgabe, bei ihren Exhumierungen nach Indizien des Tathergangs oder der Täter zu forschen. Das ist Aufgabe der JEP bzw. der Staatsanwaltschaft. Zu einer sorgfältigen forensischen Grabung oder Exhumierung gehört aber, egal wer sie unternimmt, die Erhebung aller vorhandenen Daten, die dann insgesamt der zuständigen gerichtsmedizinischen Abteilung des Bundesstaatsanwaltschaft (Medicina Legal) zu übergeben sind, die weitere Analysen vornimmt. Eine Kugel neben einem Schädel mit Loch im Kopf oder Brandspuren an Knochenresten, die für eine Identifizierung der Person unerheblich sein mögen, müssen also auch im Rahmen der „humanitären“ Suche erhoben und weitergeleitet werden. Umgekehrt wird die JEP, wenn sie eigene forensische Untersuchungen für die Prozessvorbereitung unternimmt, Indizien, die zur Identifizierung einer Person führen können, nicht vernachlässigen. All das sind leider keine Selbstverständlichkeiten, bei der auch finanziell so aufwendigen Arbeit an der Escombrera aber glücklicherweise ebenso die Regel wie die auch von den UN-Leitprinzipien (Prinzip 5) geforderte respektvolle Teilhabe der Familien und ihrer Vertretungen bei allen Aktivitäten im Rahmen der Suche.
Den gleichen Geist der Kooperation und der Achtung vor den Angehörigen konnte ich in Medellín auch bei der Übergabe der sterblichen Reste des vor über 20 Jahren „verschwundenen“ Bauern Rafael Giraldo aus der Gegend von Granada östlich von Medellín (Oriente antioqueño) auf dem Friedhof Jardín Cementerio Universal in Medellín erleben. Sein Leichnam war vor einem Jahr auf dem Friedhof von Cocorná (ebenfalls in Oriente antioqueño) gefunden worden, wo er nach seiner Verschleppung anonym hinterlassen worden war.
Zu der vierstündigen Zeremonie unter der Bezeichnung „entrega digna“ (würdige Übergabe) war die Familie von der Menschenrechtsorganisation begleitet, die sie über 20 Jahre bei der Suche unterstützt hatte. Aber auch die UBPD, die JEP und die normale Staatsanwaltschaft waren vertreten und erklärten ihren jeweiligen Part bei der Suche des 2004 verschleppten Familienvaters. Im Mittelpunkt der Zeremonie standen aber die zahlreichen Familienangehörigen aus drei Generationen – die Jüngeren hatten Rafael nicht einmal gekannt –, die in bewegender und würdiger Form Abschied nehmen konnten, wenn auch nur von einem kleinen Behälter aus Holz voll Knochen und Erinnerungsstücken. Für mich war es sehr berührend, an dieser Begegnung teilzunehmen, geprägt von gegenseitigem Respekt und Empathie bei allen Beteiligten. Der traurige Anlass der Feier wurde von der gemeinsam geteilten Erleichterung darüber, dass die Suche nach Rafael Giraldo jetzt abgeschlossen werden konnte, übertönt.



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Ein Nachtrag zu diesem Bericht über aktuelle Fortschritte bei der Suche nach Verschwundenen in Medellín muss noch sein. Wie berichtet, hat die im März 2022 verstorbene Fabiola Lalinde alle Dokumente ihres jahrzehntelangen Kampfs für die Aufklärung des Verschwindenlassens ihres Sohns Luis Fernando sorgfältig gesammelt. 2018 hat sie dieses persönliche Archiv der Zweigstelle der Nationalen Universität von Kolumbien in Medellín vermacht. Dort konnte ich mit dem ersten Kurator dieses inzwischen von der UNESCO zum Weltgedächtniserbe erklärten Archivs, Óscar Calvo, und der Historikerin Camila de los Ríos sprechen, die mir eine ausführliche Tour durch das physische und das bereits gut erschlossene digitale Archiv ermöglichte. Der „Fondo Fabiola Lalinde y Familia“ ist zwar nur ein Teil des ganzen „Laboratorio de Fuentes Históricas” genannten historischen Archivs der Universität, es prägt aber bereits jetzt das ganze Archiv, nicht nur durch das große Wandbild am Eingang, sondern auch durch das von Fabiola Lalinde übernommene Motto „Das Archiv soll sprechen“.
Fabiola selbst hat immer mit allen gesprochen, die dazu bereit waren, auch mit ihren Widerparts in Militär und Behörden. Vielleicht ist das auch der Geist, der heute in Medellín die Beziehungen zwischen den verschiedenen Beteiligten an der Suche nach den Verschwundenen, nach Wahrheit und nach Gerechtigkeit prägt.
