“Umstrittene” Personen, Parolen oder Benennungen sollte man meiden. So zumindest funktioniert das Etikett in der Öffentlichkeit. Eine in meiner Wahrnehmung als “umstritten” qualifizierte Aufforderung wie “Free Palestine” sollte eher nicht so einfach propagiert werden. Auch in Kontexten politischer Bildung mahnt dieser Sprachgebrauch, dieses Label, zur Vorsicht, wenn nicht gar zum Ausklammern. Vielleicht ist das Gesamtthema Israel/Palästina sogar auch bei ausführlicher Planung und Vorbereitung zu komplex, zu kontrovers oder zu ressentimentgeladen. Diese Erfahrung mache ich regelmäßig bei Seminaren zum Beispiel im Memorium Nürnberger Prozesse. Ausklammern ist manchmal weise, aber anspruchs- und auf Dauer auch hilflos. Demgegenüber geht der Bochumer Didaktik-Professor Karim Fereidooni in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Politisches Lernen (42/1-2/2024, S. 2-5, Verlag Barbara Budrich) in die Offensive. Zu “Hamas-Terror, Gaza-Krieg, Nahost-Konflikt” bietet er gleich 50 Handlungsmöglichkeiten an. Sein Ausgangspunkt: Aus einer Schule war ihm von einem Verbot des Direktors berichtet worden, über den “7. Oktober” zu sprechen. Fereidoonis “Guidelines” beginnen mit drei Grundsätzen:
1. Der 7.10. muss im Unterricht als Terrorakt verurteilt werden. Die Hamas ist eine Terrororganisation und keine Widerstandsbewegung. Jüdisches Leben zählt.
2. Das Existenzrecht Israels darf nicht angezweifelt werden.
3. Die Palästinenser*innen haben das Recht auf einen eigenen Staat. Muslimisches Leben zählt.
Politisches Lernen (42/1-2/2024, S. 2)
Gleichermaßen klare Antworten bietet er für das inzwischen verbreitete Prinzip der Multiperspektivität an:
Im Rahmen der Thematisierung des Terrors am 7.10. darf es keine Multiperspektivität im Unterricht geben, denn es wurden 1.400 Menschen ermordet, sowie über 200 Menschen entführt, und zwar von der Hamas. Nur eine Seite hat Gewalt ausgeübt. Wenn allerdings im Unterricht über den gesamten Nahost-Konflikt gesprochen wird, muss die Lehrkraft multiperspektivisch über die gegenseitigen Verletzungsverhältnisse der letzten 80 Jahre aufklären, denn der Konflikt und der daraus resultierende Schmerz kann nicht lediglich einer Seite zugeschrieben werden.
Politisches Lernen (42/1-2/2024, S. 2)
Und mit zunehmender Dauer des Militäreinsatzes in Gaza mit seinen Verletzungen des Kriegsvölkerrechtes muss auch die Perspektive der dort lebenden Menschen eingenommen werden.
Verbot oder Meinungsfreiheit?
In den ersten Tagen nach dem 7.10.2023 war dieses kontextualisierende “Ja, aber”, der Blick auf die letzten 80 Jahre, mit Recht wegen seiner durchsichtigen Entschuldigungs- oder Legitimationsabsicht verpönt. Inzwischen ist es umgekehrt. Die scharfe Trennung, die mit dem “Kein Ja–aber, keine Kontextualisierung” intendiert war, wird immer weniger eingehalten. Längst ist “Free Palestine” zur weithin an den Unis der Welt und auf der Straße akzeptierten Kampfparole gegen den Staat Israel geworden. Sie ist mehr als umstritten; dennoch fällt sie erstmal unter das Recht auf Meinungsfreiheit und ihr sollte nicht reflexartig mit dem Antisemitismusvorwurf oder mit dem Ruf nach Strafverfolgung begegnet werden. Denn es kommt hier tatsächlich auf den Kontext und die Perspektive an. “Verfahren wegen Volksverhetzung werden nur dort eingeleitet, wo sich aus dem Zusammenhang – zum Beispiel aus dem Bezug zu den Hamas-Massakern vom 7. Oktober – ergebe, dass Gewalt gegen Juden oder gar eine Auslöschung jüdischen Lebens in Nahost befürwortet werde. Und sich die Interpretation der Parole also ‘zu einer Eindeutigkeit verengt’”. Ronen Steinke zitiert hier die Sicht der Berliner Staatsanwaltschaft angesichts der generellen Verbotsforderung gegenüber “Free-Palestine”-Demos. Einen Kommentar zur Verbotsfrage überschreibt Steinke mit “Natürlich darf Free Palestine gerufen werden”. Ob Steinke inzwischen nicht vielfach diese Verengung zur Eindeutigkeit feststellen würde, weiß ich nicht. Wer die Parole verwendet, muss aber wissen, dass sie als Aufforderung zur Zerstörung des Staates Israel verstanden werden kann; er oder sie müsste sich auf Fragen einlassen wie: Wovon soll Palästina befreit werden? Muss Israel erobert werden? Ist die Beendigung von Repression und die Freiheit im Westjordanland und in Gaza von israelischer Besatzung gemeint oder ein palästinensischer Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer? Und: Was heißt Freiheit für die Menschen in einem von der Hamas beherrschten Staat?
Die geografische Frage wird mit der meist parallel verwendeten Parole „From the river to the see, Palestine will be free“ nicht mehr offengelassen und zielt auf die Zerstörung Israels.
Die Bundesinnenministerin, Nancy Faeser (SPD), hat diesen Spruch als vermeintliche Hamas-Parole identifiziert und am 2. November offiziell verboten. Aber die Justiz in verschiedenen Städten hat das von Beginn an nicht als totales Tabu gewertet. Sondern: Man müsse stets prüfen, ob der Spruch in einer konkreten Situation als Anfeuerung der Hamas herüberkomme. Dann, und nur dann, sei das eine Straftat, eine Verwendung von Kennzeichen terroristischer Organisationen.
Süddeutsche Zeitung, 12. Juli.2024
Andrerseits ist, auch das gehört in die Debatte, ein Staat Israel vom Mittelmeer bis zum Jordan auch das Ziel mancher nationalreligiöser Extremisten.
Cheema/Mendel: Ein Weg in der Bildungsarbeit
In der Alltagskommunikation, in der Bildungsarbeit und auch in der Wissenschaft geht es weniger um Parolen als um Informationen und überzeugende Argumente. Hier sollten wir dem Weg folgen, den Meron Mendel und Saba-Nur Cheema mit ihrer Bildungsarbeit (Bildungsstätte Anne-Frank in Frankfurt) zeigen. Sie sind in Anerkennung ihrer Verständigungsbemühungen gerade für die Buber-Rosenzweig-Medaille 2025 der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ausgewählt worden. Allerdings wurde diese Entscheidung von Josef Schuster, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, zumindest in Bezug auf Meron Mendel kritisiert. Mendel äußere sich zu oft ohne Kompetenz in der Sache und könne nicht für die Mehrheit der Juden in Deutschland sprechen. In einem Interview erklären Mendel (“Ich habe jetzt auch den Stempel ‚Umstritten’”) und Cheema, seine muslimische Frau, ihre Kommunikationsstrategie:
Die Ausladungen, die Absagen von Veranstaltungen und Preisverleihungen in der jungen Vergangenheit, all das haben wir immer wieder kritisiert, weil wir denken, dass man seine Position mit Argumenten verteidigen soll, nicht, indem man dafür sorgt, dass andere Positionen aus der Öffentlichkeit verschwinden.
Süddeutsche Zeitung, 2. August 2024
Schon in einem Gespräch mit der tageszeitung taz vom 26. April 2023 (wochentaz, zusammen mit Anna Staroselski) hatte er angemahnt, dass es beim Vorwurf des Antisemitismus mehr Definitionsschärfe brauche. Und der Apartheid-Vorwurf gegen Israel sei zwar falsch, aber “man muss die Diskussion führen und Belege dafür finden, warum dieser Vergleich zwischen Israels Besatzungspolitik und der Apartheidpolitik nicht zutreffend ist.”
Meron Mendel hat auch in Nürnberg mit Ex-OB Ulrich Maly diskutiert, Tenor hier zu Israel-Hamas: raus aus der Gewaltspirale, für die Debatte in Deutschland: raus aus dem Lagerdenken.
Wir sollten hier in der Situation in Deutschland darauf beharren: Meinungsfreiheit bleibt geschützt; unsere Aufgabe ist das Erlernen der Unterscheidung zwischen Hass-Propaganda und Aufruf zu Gewalt einerseits und offenem Gespräch und dem Austausch von Argumenten andrerseits. Denn im politisch-pädagogischen Alltag sind wir nicht mit militanten Demonstrationen konfrontiert; wir müssen also nicht ad hoc entscheiden, wann eine Straftat zu befürchten ist und die Polizei gerufen werden sollte. Daher zurück zu Fereidouni: zumindest einige Zwischenüberschriften, die er über seine Ratschläge geschrieben hat, will ich zum Schluss zitieren:
Ich stelle menschliche Schicksale vor, anstatt Opferzahlen zu präsentieren.
Politisches Lernen (42/1-2/2024, S. 4-5)
Ich stelle Initiativen vor, die sich für den Frieden einsetzen.
Ich erläutere Zusammenhänge und Multiperspektivität des Nahostkonfliktes.
Ich nehme Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus ernst.
Ich besitze eine realistische Sichtweise auf mein pädagogisches Handeln.
Dieser Ansatz ist meines Erachtens auch einladender und offener in der politischen Kommunikation mit Menschen, die einen Migrationshintergrund haben, die aus einer arabisch-islamischen Sozialisation kommen oder überhaupt Menschen, die “vom globalen Süden her“ denken.