Wohl niemand würde heutzutage noch bestreiten, dass wir in einer sexualisierten Welt leben. Tagtäglich strömen auf uns unzählige erotisierte Reize und Impulse ein, sei es in Form von körperbetonender Werbung, Kleidungsstücken, Kommentaren, Komplimenten oder während des eigenen Medienkonsums. Sexualisierung ist somit nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Sexualisierung ist quasi Alltag.
Und eng verbunden mit der alle Bereiche durchdringenden Sexualisierung ist der Sexismus. Als Sexismus soll hier gemeint sein, dass Menschen vielmehr als passive Objekte wahrgenommen werden anstatt als aktive Subjekte mit eigenen Gedanken, Vorstellungen, Ängsten, Träumen und Bedürfnissen. In einer sexistischen Gesellschaft zu leben bedeutet zudem, dass wir Menschen, die sich unserer gesellschaftlichen Sexualisierung unterwerfen, mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen und einen höheren Stellenwert zuschreiben. Also die Menschen, die wir körperlich attraktiv finden. Dies ist hinlänglich bekannt und in zahlreichen Studien bewiesen: Wir schreiben physisch attraktiveren Menschen positivere Eigenschaften zu, wie z.B. Kompetenz, Ausdauer, Erfolg und Vertrauenswürdigkeit. Ein Phänomen, das als Attraktivitätsstereotyp geläufig ist.
Hierbei hat dieses Attraktivitätsstereotyp (eng verbunden mit einer Form des sogenannte Halo-Effekts) konkrete Auswirkungen auf unser Sozialverhalten und unseren sozialen Status. So erhalten vermeintlich hübschere Menschen nachweislich bessere Noten, mehr Berufsmöglichkeiten und Beförderungen, höhere Gehälter, geringere Strafen und werden eher gewählt. Wir schreiben ihnen mehr Kompetenzen zu, loben sie mehr, teilen ihre Argumente eher und schenken ihnen mehr Aufmerksamkeit. Sogar junge Eltern reagieren unterbewusst stärker und häufiger auf ihre Babys, wenn diese als allgemein hübsch gelten, indem die Kinder häufiger geliebkost und geküsst werden und mehr Aufmerksamkeit erhalten.
Negative Auswirkungen des Attraktivitätsstereotyps
Trotz dieser Erkenntnisse und dem steigenden Bewusstsein für Sexismus wird die Wirkung des Attraktivitätsstereotyps auf Kinder und Jugendliche immer noch sträflich vernachlässigt. Die Tatsache, dass physisch attraktivere Menschen erfolgreicher und beliebter sind, wirkt einen enormen sozialen Druck auf Heranwachsende aus.
Während es hierzulande immerhin – im Gegensatz zu manchen Teilen der Welt – unüblicher ist, Schönheitswettbewerbe für Kinder zu veranstalten, sind auch hier Schönheitsideale bei Kindern und Jugendlichen omnipräsent und wirken sich auf ihre eigene und von außen zugeschriebene Wertschätzung und sozialen Stellwert aus. Kinder kleiden sich beispielsweise bereits reizvoller, um höhere Klickzahlen auf Social Media zu erreichen und sie haben auch schon im Kindergartenalter selbst sexistische Ansichten und Vorurteile gegenüber anderen Kindern – unter anderem aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes und des Geschlechts.
Zudem können unrealistische Schönheitsideale via Social Media Essstörungen bei den Heranwachsenden auslösen und dazu führen, dass immer mehr Kinder unzufrieden mit ihrem eigenen Körper sind und ein höheres Schamgefühl dafür entwickeln. Es ist auch zu befürchten, dass das Risiko steigt, dass sich Kinder aufgrund sexistischer Gesellschaftsnormen eher auf manipulative und ausnutzende Situationen, Verhaltensweisen und Strukturen einlassen.
Sexualisierung bereits gegenüber Ein- und Zweijährigen
Wie weit voran geschritten diese alltägliche Sexualisierung ist bei gleichzeitig mangelndem Bewusstsein dessen, musste ich als Papa einer nun wundervollen zweijährigen Tochter erleben.
Das erste Mal wurde ich Zeuge davon, als ein Freund (selbst junger Vater) ganz ungeniert meine damals einjährige Tochter mit ihrem gut gepolsterten Windelpo mit den Worten „Die steht da wie eine Bitch!“ kommentierte. Ein Kommentar, das mich nicht nur aufgrund der gewählten Worte und deren Bedeutung schlichtweg schockierte. Was mich auch bestürzte, war die Art und Weise, wie dieses Kommentar locker flockig mit einem kleinen Lachen über die Lippen ging, als wäre daran nichts Anstößiges oder Problematisches. Eben alltäglich.
Ein anderes Mal lief meine damals einjährige Tochter nur mit roten Gummistiefeln bekleidet bei uns daheim herum, weil sie in dem Moment einfach keine Lust auf Klamotten hatte und ihre roten Gummistiefel liebte. Etwas, was ich bis dahin als völlig in Ordnung und unproblematisch wahrgenommen hatte (und es auch immer noch tue). Bis eines Tages ein Verwandter, wie so oft, zu Besuch kam und der Mann (selbst Vater von nun erwachsenen Kindern) meine herum rennende Tochter allen erstes mit „Sexy!“ begrüßte. Auch hier war es nicht nur die Bedeutung des Kommentars, sondern auch dessen Alltäglichkeit, die mich höchst irritierte.
Meine einjährige Tochter ist keine „Bitch“ und auch nicht „sexy“!
Ein reflektierender Papa
Ein weiteres Mal ging meine gerade zwei Jahre alt gewordene Tochter auf eine kleine Gruppe von fremden Jungs zu (8- bis 10-jährige), die auf einer Wiese spielten. Nach einer kurzen Beobachtungszeit spielte sie mit den Jungs zusammen Fangen und es war schön zu sehen, wie schnell, unbefangen und unkompliziert Kinder zusammen kommen und miteinander Spaß haben können. Doch offensichtlich konnte man diese Situation auch anders wahrnehmen. Zwei ältere Verwandte (ebenfalls Eltern) kommentierten das Spielen unbefangen mit „Na, die mag die Männer aber schon sehr.“ Als meine Tochter dann noch die Jungs umarmte, hieß es prompt: „Die fängt aber früh mit den Männern an!“ und „Hola, na da müsst ihr aber schon früh aufpassen!“
Ganz offensichtlich spielten die Kommentare auf eine mögliche körperliche und erotisierte Beziehung zwischen ihr und den Jungs („Männer“) an, wurden aber so beiläufig und mit einem Lachen kundgetan als wäre es das Normalste auf der Welt.
Diese Kommentare offenbaren nicht nur schonungslos, wie tief verankert Alltagssexualisierung in den Köpfen unserer Gesellschaft ist. Indem wir bereits bei Ein- und Zweijährigen Situationen und Verhaltensweisen mit einer Alltäglichkeit sexualisieren, ebnen wir bereits im Kleinkindalter den Nährboden für eine omnipräsente Sexualisierung, was später zu sexistischen Vorurteilen und geschlechtsbedingter Diskriminierung führen kann.
Aus diesem Grund ein Appell eines reflektierenden Papas: Lasst uns doch einfach Kinder Kinder sein, unsere eigenen sexualisierten (wenn nicht sogar sexistischen) Gedanken für uns behalten und daran arbeiten, dass wir alle Menschen unabhängig ihrer Attraktivität gleich behandeln!
Interessanter Beitrag und ebenso, was in einem Männerkopf (Köpfe) vorgeht, wenn ein Kleinkind nackt in einer Wohnung spielt. Das einzig Positive an öffentlichen Äußerungen wie „sexy“ oder „Bitch“ ist, dass man seine Kinder niemals mit diesen Erwachsenen alleine lässt. Keine Sekunde. Eltern sollten gegenüber ihren Kindern aufmerksam sein und auf deren Fragen in Richtung Sexualität oder sie irritierende Ereignisse, Werbung, Plakate, … offen, jedoch kindgerecht antworten. Wenn es für Eltern zu knifflig ist, darf gerne bei einem Sexualpädagogen oder einer Sexualpädagogin nachgefragt werden.
Wie gut eine Zweijährige mit acht bis zehnjährigen Fangen spielen kann, habe ich mich gefragt. Und es wurde im Artikel psychisch mit physisch verwechselt.
Vielen Dank für den Kommentar und die wichtigen Hinweise!
Das Wort habe ich entsprechend berichtigt!
nrechte.org/blog/ein-papa-reflektiert-episode-1-sexualisierung-im-kleinkindesalter/
Ein Beitrag der sehr zum Nachdenken anregt. Da ich in meiner Berufsgruppe oft eindeutig zweideutig rede, wurde mir gerade beim Lesen des Artikels bewusst, dass ich auch zu den Menschen gehöre, die schnell mal so einen Spruch auch den Lippen haben, aber ohne bewussten Hintergedanken. Wenn ich aber mal darüber nachdenke, wie sexistisch unsere Gesellschaft inzwischen geworden ist und wie man sich dem auch unbewusst anpasst, ist es schon sehr bedenklich.
Ich werde in Zukunft auf jeden Fall bedachtsamer mit diesen Wortfloskeln umgehen und danke für den Impuls, der mich jetzt wirklich etwas getroffen hat und definitiv nach Veränderung schreit!
Das Thema beschäftigt mich und eine befreundete Mutter auch gerade. Mich würde interessieren, wie du/ob du auf die Kommentare jeweils reagiert hast, ob es dir leichtfiel und ob du dir elternstärkende Workshops oder Ähnliches gewünscht hast/diese vielleicht sogar gefunden hast.
Beste Grüße