Die Nachrichten, welche uns aus Namibia erreichen, sind keine, die uns zum Thema Versöhnung in den Sinn kommen könnten. Hunderte Demonstrant:innen protestieren auf den Straßen Windhoeks, fühlen sich ausgeschlossen, verraten. Doch was war passiert?
Gut zehn Monate, nachdem das Versöhnungsabkommen zwischen Deutschland und Namibia vorgestellt worden ist, wurde es noch immer nicht von der namibischen Regierung ratifiziert. Denn anstatt zu versöhnen, vergrößerte der Beschluss die Antipathie gegen die einstige Kolonialmacht und deren im Land wohnenden Nachkommen. Anstatt zu vereinen, vertiefte es die Abneigungen der einzelnen Bevölkerungsgruppen untereinander.
Im vergangenen Jahr erkannte Deutschland erstmals offiziell den Völkermord an den Herero und Nama an – mehr als 115 Jahre nach dem brutalen Vernichtungskrieg. Auf eine öffentliche Entschuldigung und Entschädigungen warten die Nachfahren der Opfer bis heute.
Rückblick: Namibias koloniale Vergangenheit
Namibias koloniale Vergangenheit könnte kaum komplexer sein. Gezeichnet von zwei Besatzungsmächten, einem Genozid und Apartheid, erlangte das Land als eines der letzten des afrikanischen Kontinents seine Unabhängigkeit. Um die politischen Gegebenheiten rund um das Versöhnungsabkommen nachvollziehen zu können, ist es wichtig, sich intensiv mit Namibias kolonialer Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Im Rahmen der Berliner Kongo-Konferenz wurde das damalige Südwestafrika 1884 dem Deutschen Kaiserreich zugesprochen. In den darauffolgenden 20 Jahren stieg die Zahl deutscher Zuwander:innen stetig. Dies führte zu enormen Spannungen, da die Neuankömmlinge nicht nur begannen, Namibias natürliche Ressourcen auszubeuten, sondern auch Krankheiten einschleppten, die einheimische Bevölkerung unterdrückten und Landraub begingen. Um ihre Freiheiten zurückzuerlangen, schlossen sich die einst verfeindeten Herero und Nama zusammen und begannen sich aktiv gegen ihre Unterdrücker:innen zu wehren.
Im Januar 1904 begann der sogenannte Hererokrieg, welcher seinen Höhepunkt acht Monate später in der Schlacht am Waterberg fand. Hier wurden die Herero innerhalb von nur zwei Tagen besiegt. Die Überlebenden flüchteten in die Omaheke-Wüste, wo die meisten von ihnen an Dehydrierung starben. Am 2. Oktober erließ der deutsche General Lothar von Trotha seinen berüchtigten Schießbefehl – jeder Herero innerhalb deutscher Grenzen sollte erschossen werden. Trotha plante bewusst die Ausrottung der Herero. Dies zeigt sich in seiner Nachricht an den deutschen Generalstab. In dieser heißt es, dass „die Nation als solche vernichtet werden muss.“
Der Schießbefehl wurde im Dezember 1904 aufgehoben. Diejenigen, die überlebt hatten, wurden in Konzentrationslager gebracht. Dort starben sie an Unterernährung sowie den Folgen der Zwangsarbeit. Die Überlebenden konnten die Lager erst 1908 wieder verlassen.
Während die Herero früh besiegt waren, dauerte die Rebellion der Nama fünf Jahre. Bei den Kämpfen wurden nicht nur viele von ihnen getötet, dem Volk wurden auch die Rechte entzogen. Mit Einführung der Eingeborenenverordnung 1907, wurde den Nama der Status von Sklav:innen verliehen. Bis zum Ende der deutschen Kolonialherrschaft verloren rund 50 Prozent aller Nama und 80 Prozent aller Herero ihr Leben.
Im Jahr 1915, kurz nachdem der Erste Weltkrieg ausgebrochen war, verlor Deutschland das Land an Südafrika. Der Versailler-Vertrag von 1919 machte Deutsch-Südwestafrika nach Ende des Krieges zum Mandatsgebiet des Völkerbundes, bis es drei Jahre später von Südafrika als Treuhandgebiet übernommen und als fünfte Provinz verwaltet wurde. So kam es, dass auch Namibia bis zu seiner Unabhängigkeit 1990 unter den Apartheidgesetzen litt.
Eine Versöhnung, die aussichtslos erscheint
Der Mord an den Herero und Nama gilt als erster Völkermord des 20. Jahrhunderts. Seit Namibias Unabhängigkeit versuchen die Nachfahren Reparationen von Deutschland zu erlangen. Jedoch weigerte sich nicht nur die erste namibische Regierung einen Brief mit Entschädigungsforderungen weiterzuleiten, auch ein Treffen des ehemaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher mit dem Herero-Führer Kuaima Riruako blieb erfolglos. Zudem konnten Vertreter:innen der Herero und Nama bei den darauffolgenden Staatsbesuchen von Helmut Kohl 1995 und Roman Herzog 1998 nichts erreichen. Aufgrund der aussichtslosen Situation reichte Riruako 1998 eine Klage gegen die Bundesrepublik beim Internationalen Gerichtshof ein. Diese wurde allerdings abgelehnt, da nur Staaten parteifähig sind. Daraufhin wendeten sich die Herero mit einer zivilrechtlichen Sammelklage an das District Court in Washington. Unter Berufung auf den Grundsatz der Staatenimmunität verweigerte Deutschland jedoch 2002 die förmliche Zustellung der Klageschrift. Die Staatenimmunität ist ein Grundsatz des Völkerrechts, wonach die Bundesrepublik von der Gerichtsbarkeit durch andere Staaten befreit ist.
Trotz der gerichtlichen Niederlagen gewann Deutschlands Kolonialgeschichte an Popularität im öffentlichen Diskurs. Nachdem das Auswärtige Amt die Verbrechen 2015 erstmals als Völkermord benannt hatte, begann die Bundesrepublik mit Namibia an einem Versöhnungsabkommen zu arbeiten. Da die große Mehrheit der afrikanischen Regierung jedoch aus Politiker:innen des Ovambo-Volkes besteht, fühlten sich die Herero und Nama von den bilateralen Verhandlungen ausgeschlossen. So kam es 2017 zu einer weiteren Sammelklage – dieses Mal vor dem US District Court Southern District of New York. Auch diese wurde abgelehnt. Im Mai 2021 einigten sich Vertreter:innen beider Regierungen schließlich auf ein Abkommen. Laut diesem möchte die Bundesregierung die Nachfahren der Herero und Nama offiziell um Vergebung bitten. Zudem erkennt sie die Verbrechen des Deutschen Kaiserreichs als Genozid an. Auch wenn die Bundesregierung betont, dass es aus ihrer Sicht keinen Rechtsanspruch auf Entschädigungszahlungen gibt, bietet sie aus moralischer Verpflichtung heraus 1,1 Milliarden Euro für Entwicklungsprojekte über einen Zeitraum von 30 Jahren.
Obgleich dies sicherlich als erster Erfolg in der Versöhnung der Völker verstanden werden kann, wird das Abkommen stark kritisiert. Abgesehen davon, dass kaum Vertreter:innen der Herero und Nama bei den teils intransparenten Verhandlungen anwesend waren, ist es auch nicht klar, welche Projekte genau unterstützt werden sollen. Anstatt an die namibische Regierung, sollte das Geld direkt an die Nachkommen der Opfer gezahlt werden. Herero und Nama bezeichnen das Abkommen als PR-Coup Deutschlands, um sich aus der Verantwortung zu ziehen. Dass sie mit ihrer Meinung nicht allein dastehen, zeigte sich deutlich im September 2021. Aufgrund heftiger Proteste im ganzen Land, musste die Ratifizierung des Abkommens durch das Parlament vertagt werden. Zudem haben die Ovaherero Traditional Authority und die Nama Traditional Leaders Association eine Petition im Bundestag eingereicht. Selbst wenn die beiden Organisationen nicht alle Gruppen ihrer Stämme vertreten, zeigt dies deutlich die Unzufriedenheit der Betroffenen.
Doch warum fällt es der Bundesrepublik seit Jahrzehnten so schwer, sich öffentlich zu entschuldigen, den Genozid anzuerkennen und die Nachkommen der Opfer zu entschädigen? Wie kann es sein, dass es bis heute keine offizielle Bitte um Vergebung gab? Auch wenn der Begriff Genozid erst 1948 in Form der UN-Völkermordkonvention definiert worden ist, ist es offensichtlich, dass der damalige Vernichtungskrieg die Ausrottung zweier Völker zum Ziel hatte. Zudem besagt das deutsche Grundgesetz von 1949, dass seit 1871 keine Sukzession stattgefunden hat – so gilt die Bundesregierung als Rechtsnachfolger des Deutschen Kaiserreichs.
Kontroverse Vergleiche erschweren das Verhältnis
Namibias koloniales Erbe prägt noch heute die Ideologien der Bevölkerung – sowohl politisch wie auch sozio-kulturell. Trotz der deutschen Kolonialverbrechen muss jedoch bedacht werden, dass das Deutsche Kaiserreich nicht die einzige Kolonialmacht des Landes war. Zudem waren die Herero und Nama nicht die einzigen Völker, die unter der Fremdherrschaft litten.
Nicht nur regierte Südafrika Namibia mehr als doppelt so lange wie Deutschland, die Folgen der Apartheid sind noch heute im ganzen Land spürbar. Obwohl eine Klage gegen Südafrika vor dem Internationalen Strafgerichtshof als erfolgversprechend gilt, konzentrieren sich die Reparationsforderungen lediglich auf Deutschland. Erschwerend hinzukommt, dass es keine Zeitzeugen des Genozids mehr gibt. Geschehnisse können nur noch subjektiv von Nachkommen berichtet werden.
Des Weiteren muss es als kritisch angesehen werden, dass viele Herero Parallelen zum Holocaust ziehen und in der gleichen Form wie Israel entschädigt werden möchten. Es stimmt, dass gemäß dem concept of cultural narcissism die Radikalisierung von Antisemitismus aus kolonialem Rassismus resultiert. Viele Verbrechen unter Hitler haben ihren Ursprung in der deutschen Kolonialzeit. So wurde Morden durch Zwangsarbeit an schwarzen Afrikaner:innen „getestet“, bevor es an Juden „perfektioniert“ worden ist. Nichtsdestotrotz darf hierbei jedoch nicht vergessen werden, dass die Herero und Nama, im Gegensatz zu den Juden, die Deutschen herausforderten und sich aktiv wehrten. Sie wurden nicht lediglich aufgrund ihrer Identität ermordet. Der Holocaust umfasst andere Dimensionen und fand vor einem anderen Hintergrund statt. Dies soll keines der Verbrechen verharmlosen – sie miteinander zu vergleichen ist jedoch sehr problematisch, weshalb sie jeweils in ihrem eigenen Kontext betrachtet werden sollten.
Öffentliche Aufarbeitung kolonialer Verbrechen ist essenziell
Die entscheidende Frage ist nicht, ob ein Genozid stattgefunden hat, sondern inwiefern die Bundesrepublik dafür Verantwortung übernehmen kann und wie die Nachfahren der Herero und Nama fair entschädigt werden können. Das Versöhnungsabkommen ist sicherlich ein erster Schritt in die richtige Richtung. Zur Völkerverständigung braucht es jedoch mehr. Da Stammeszugehörigkeiten noch immer eine relevante Rolle in Namibia spielen, muss sich die neue Bundesregierung explizit mit den Vertreter:innen der Herero und Nama austauschen. Insbesondere auch deshalb, da Deutschland bereits seit Jahren mehr Entwicklungshilfe pro Kopf an Namibia als an alle anderen Entwicklungsländer zahlt. Die Ovambo geführte Regierung profitiert also schon seit Längerem aktiv von der Bundesrepublik.
Ein Lichtblick ist auch, dass die Aussöhnung mit Namibia Teil des neuen Koalitionsvertrages ist:
„Die Aussöhnung mit Namibia bleibt für uns eine unverzichtbare Aufgabe, die aus unserer historischen und moralischen Verantwortung erwächst. Das Versöhnungsabkommen mit Namibia kann der Auftakt zu einem gemeinsamen Prozess der Aufarbeitung sein.“
Wenn auch nur in zwei Sätzen erwähnt, wird die Aufarbeitung der Kolonialverbrechen als Aufgabe der jetzigen Legislaturperiode genannt. Inwiefern dies geschehen soll, ist nicht weiter definiert. Neben einem akzeptablen Versöhnungsabkommen muss auch die deutsche Erinnerungskultur gefördert werden. So sollten nicht nur weiterhin unangebrachte, aus der Kolonialzeit stammende Straßennamen geändert werden, auch sollte die Rückgabe von kolonialer Raubkunst in den Fokus rücken.
Es mussten über 100 Jahre vergehen, bis es die deutschen Kolonialverbrechen in den öffentlichen Diskurs geschafft haben. Gerade weil Deutschland noch immer am Anfang der Aufarbeitung seiner kolonialen Geschichte steht, ist es essenziell, transparente Debatten zu fördern und aktiv auf die Nachkommen der Opfer zuzugehen. Nur durch interkulturellen Austausch kann nach über einem Jahrhundert Frieden geschlossen werden.