Ausstellung
Wenn das Leid Gestalt annimmt
Politische und soziale Gewalt in den Werken der Volkskünstler
Perus
Rainer
Huhle
(Dieser
Beitrag erschien zuerst in HISPANORAMA, Heft 100, 2003, S. 67-86)
Lo
andino creador o recreador, por oposición a creado, en
la plástica, es hoy la representación artesanal
en evolución, en representación de espacios temáticos
perdidos, o aun nunca conocidos - Mirko Lauer
Als ab 1532 die spanischen Eroberer das Inkareich unterwarfen,
fanden sie überall hochentwickelte Kulturen vor, die vielfältige
reiche Traditionen bildender Kunst aufwiesen. Während im
Bereich der offiziellen repräsentativen Darstellungen nach
der Eroberung weitgehend die spanisch-europäischen Formen
durchgesetzt wurden, blieben in der bäuerlich geprägten
Volkskunst altperuanische Darstellungsformen und künstlerische
Techniken stärker erhalten. Sie gingen eine originelle Verbindung
mit spanischen Motiven ein, die zu einer ganz eigenständigen
künstlerischen Tradition führte.
Ein
genauerer Blick auf die Werke der peruanischen Volkskunst (und
in gewissem Umfang auch die der benachbarten Andenländer)
zeigt, dass in ihnen auch früher schon das Leid und die Gewalt
mit enthalten waren, die mit der spanischen Eroberung für
die einheimische Bevölkerung verbunden war. Auf subtile Weise
war diese Kunst schon immer "politisch", auch wenn dies
gar nicht in der erklärten Absicht ihrer Schöpfer lag.
Ein bekanntes Beispiel sind die unzähligen Darstellungen
des Apostels Jakobus ("Santiago"), dessen ambivalente
Rolle Beschützer und Bezwinger der Indios stets viel Raum
für die Darstellung gewalttätiger Machtausübung
ließ. Tiefe Spuren in der Volkskunst hat auch der im Brauchtum
des ländlichen Peru seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dokumentierte
(Muñoz 1993: 213) rituelle Kampf zwischen dem (spanischen)
Stier und dem (indianischen) Kondor hinterlassen, eine den eigenen
Vorstellungswelten entsprechende Weiterentwicklung des aus Spanien
schon wenige Jahre nach der Conquista eingeführten Stierkampfs.
In Ayacucho ist die möglichst dramatische Darstellung der
"Yawar fiesta" als - historisch nicht unbedingt korrekte
- Repräsentation dieses gewalttätigen Zusammenpralls
zweier Welten geradezu zu einem Standardmotiv geworden.
Dies
sind nur wenige Hinweise, die zeigen, dass die dem ersten Anschein
nach lediglich traditionellen Mustern verhaftete Volkskunst immer
offen gewesen ist für die Aufnahme neuer Elemente, die sich
aus dem historischen Wandel ergaben. Ob religiös geprägte
Kunstformen oder schlichte Gebrauchsgegenstände, die fast
immer anonymen Volkskünstler waren meist am Puls der Zeit,
ohne ihre traditionellen Ausdrucksformen aufzugeben. Das ist bis
heute so geblieben.
Die
traditionelle Handwerkskunst
Die
Anfänge der heutigen peruanischen Volkskunst sind für
den Bereich der bildenden Kunst in der Fertigung praktischer und
symbolischer Gebrauchsgegenstände zu suchen . Wo die entsprechenden
Rohmaterialien vorhanden waren und zugleich eine beständige
Nachfrage nach bestimmten Artikeln bestand, entwickelten sich
spezialisierte Formen des Kunsthandwerks, gleich ob es sich dabei
um Produktion für den eher bäuerlichen Gebrauch oder
für den anspruchsvollen Bedarf von Grundbesitzern oder der
Kirche handelte. Einige Beispiele:
Mate
Überall
auf der Welt, wo es hartschalige Kürbissorten gibt, haben
die Menschen den hohen Gebrauchswert dieser Schalen, aber auch
ihre hervorragend Eignung zu künstlerischer Bearbeitung entdeckt.
In der Wüste Perus hat man Exemplare dieser mit dem von Quechua
"Mati" ("Vaso o platos de calabazo para beber o
comer" ) hergeleiteten Wort "mate" bezeichneten
Kürbisschalen gefunden, die 4000 Jahre alt sind und schon
damals künstlerisch bearbeitet wurden. Während der Kolonialzeit
wurden aus den Mates kostbare, mit Silbereinfassungen versehene
Gefäße. Damals auch begann man, die Mates mit den von
den Spaniern angenommenen Mudejar-Ornamenten zu verzieren, deren
kunstvolle Muster bis heute typisch für die Gestaltung vor
allem des oberen Teils der Mates sind. Heute gibt es in Peru mehrere
Gebiete, in denen sich die Herstellung von bearbeiteten Kürbisschalen
als traditioneller Zweig des lokalen Kunsthandwerks herausgebildet
hat. Während die Mates aus dem Norden eher einfache Verzierungen
und Kolorierungen aufweisen und noch in erster Linie mit Blick
auf den Gebrauch hergestellt werden, hat sich zunächst in
Ayacucho und dann im zentralen Mantarotal im Zentrum Perus eine
Tradition stark verzierter geschnitzter Kürbisse herausgebildet,
deren Anfänge im 19. Jahrhundert in Ayacucho zu finden sind,
und zwar in den heißen trockenen Tälern im Osten, wo
sowohl die Kürbispflanze als auch Zuckerrohr gedeihen. So
entstand eine spezifische Form der Nutzung der Mates, die mit
einem gezackten, als Deckel abnehmbaren Oberteil ausgestattete
Zuckerdose, die bis heute auf allen Kunsthandwerksmärkten
des Landes zu den häufigsten Objekten gehört, so sehr,
dass "azucarero" in Orten wie Huanta oder Mayocc praktisch
zu einem Synonym für "Mate" geworden ist (Sabogal
1987: 21).
Textilkunst
Wie
in allen Regionen der Anden, war auch in Ayacucho das Weben oft
sehr feiner Stoffe eine der wichtigsten Handwerkszweige, schon
deshalb, weil Tuche zu den wichtigsten Artikeln gehörten,
mit denen die Dörfer ihren Tribut an die jeweiligen Herren
zu leisten hatten. Schon in der Inkazeit, aber auch unter der
spanischen Herrschaft wurden die einzelnen Regionen angehalten,
sich in ihrer Kleidung erkennbar zu unterscheiden. Vor allem die
Kirche normierte die Kleidung dann weiter, so dass sich ein Kanon
von quasi verbindlichen Kleidungsstücken für die andine
Bevölkerung, vor allem die Frauen, herausbildete, der dennoch
deutliche regionale Differenzierungen ermöglichte. Trotz
des starken Bemühens von Kirche und Verwaltung während
der Kolonialzeit, eine Kleiderordnung zu überwachen, blieben
einige Kleidungsstücke, vor allem die Gürtel und Llicllas
der Frauen, weiterhin Träger alter Codes, die sich in den
Mustern der Webstreifen finden und erst in den letzten Jahren
stärker wissenschaftlich erforscht wurden. Ähnlich wie
z.B. die Töpfer litten die Weber stark unter der Verdrängung
ihrer Produkte durch industrielle Massenware, war ihre Kundschaft
doch bei aller Kunst in erster Linie am Gebrauchswert der Kleidungsstücke
interessiert.
Keramik
Ob
der Mate, wie der peruanische Kunsthistoriker José Sabogal
meint, das Vorbild für die ersten Keramikgefäße
des alten Peru abgegeben hat, oder ob hier einfach die elementare
Grundform des Rundgefäßes ein neues Material gefunden
hat, sei dahin gestellt. Jedenfalls gehört der gebrannte
Ton zu den ältesten in aller Welt genutzten Materialien zur
Fertigung von Gebrauchsgegenständen. In den peruanischen
Anden sind Tongefäße erst relativ spät, vor etwa
4000 Jahren entstanden, gehörten dann aber zu den wesentlichen
Elementen zahlreicher vorspanischer Kulturen. Die Verbreitung
ihrer Produktionsstätten ist bis heute an bestimmte ökologische
Voraussetzungen, insbesondere das Vorkommen geeigneter Tone, Brennmaterialien
und eventuell Färbemittel gebunden. In Ayacucho ist es vor
allem die Gemeinde Quinua, bekannt durch die entscheidende Schlacht
in der "Pampa von Quinua" im Unabhängigkeitskrieg
gegen die Spanier, die eine hochentwickelte Tradition keramischer
Produktion aufweist. Zu den traditionellen Produkten gehören
neben Gebrauchsgefäßen auch zahlreiche kultische Gegenstände
wie z.B. Kreuze, häufiger noch kleine Kirchen aus Ton, die
auf Hausdächern über das Glück der Bewohner wachen.
Alabaster
(Piedra de Huamanga)
Kultgegenstände
sind auch das wesentliche Erzeugnis eines weiteren Zweigs der
Volkskunst, der vor allem in Ayacucho Bedeutung erlangt: den Skulpturen
aus "Piedra de Huamanga", einem besonderen Alabaster,
der in der Provinz Cangallo im Süden des Departements gewonnen
wird. Aus vorspanischer Zeit ist kein Gebrauch dieses Materials
überliefert. Umso reicher sind die erhaltenen Werke aus kolonialer
und republikanischer Zeit, bei denen es sich fast ausschließlich
um religiöse Gebrauchskunst wie Wandreliefs, Heiligenstatuen,
Altarelemente etc. handelt. Auftraggeber hierfür waren naturgemäß
in erster Linie kirchliche Funktionsträger, aber auch wohlhabende
Hacendados oder Stadtbewohner. Die alte Bischofsstadt Ayacucho,
ein Zentrum kirchlicher Orthodoxie seit dem 16. Jahrhundert, mit
ihren 33 großen Kirchen und einer stark traditionell und
regionalistisch geprägten Oberschicht, war der Boden, auf
dem diese auch für die Kolonialzeit ungewöhnliche religiöse
Kunst gedeihen konnte. Seit dem 19. Jahrhundert sind auch einige
Stücke aus volkstümlicher religiöser Praxis, vor
allem Retablos (s.u.), erhalten, was jedoch aufgrund des hohen
Preises des Materials die Ausnahme bleiben musste. So waren die
Bildhauer aus Piedra de Huamanga keine Volkskünstler im engeren
Sinn, sondern thematisch und ästhetisch stark von ihrer kleinen
Zahl von hochgestellten Auftraggebern abhängig. Ähnlich
wie die Kirchenmaler orientierten sie sich in der Motivwahl und
-gestaltung stark an importierten europäischen Grafikblättern
und anderen Vorbildern (Majluf/Wuffarden 1998). Der weiße
Stein wurde in der Blütezeit dieser lokalen Bildhauerkunst
gewöhnlich farbig bemalt. Im zwanzigsten Jahrhundert machte
die Alabasterkunst den Niedergang von Macht und Pracht der Kirche
und der Grundbesitzer in Ayacucho mit. Erst mit dem allgemeinen
Aufschwung der Volkskunst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts
unter neuen Vorzeichen erlebte auch dieser Zweig eine Renaissance.
Retablos
Die
Viehhalter, Bauern und Fuhrleute benötigten für ihre
Zeremonien die Sanmarcos, Holzkästen, in denen üblicherweise
der hl. Markus, Patron der Stiere, der Hl. Lukas, Patron des Löwen,
der Hl. Johannes der Täufer, Patron der Schafe, der Hl. Antonius,
Patron der Maultiere und die Hl. Agnes, Patronin der Ziegen, dargestellt
waren. Meist trat noch der Hl. Jakob, Patron der Lamas, hinzu
(Razzeto 1982: 92). Bemerkenswert ist, dass der Schutzpatron der
Ackerbauern, der Hl. Isidor, in den ayacuchanischen Retablos nicht
vorkommt , was auf die ausschließliche Verwendung dieser
schon aus Spanien bekannten (Lauer 1982: 148) tragbaren Altäre
durch die Hirten und Maultiertreiber hinweist, die übrigens
als die Fernhändler des ländlichen Peru auch den Vertrieb
der Retablos übernahmen. In den Kirchen, und auch auf den
kleinen ebenfalls tragbaren Tafelbildern war die Figur des Hl.
Isidor jedenfalls, zusammen mit den übrigen Schutzpatronen
und Maria, prominent vertreten (Macera 1979). Neben den Heiligen
waren im Sanmarcos immer auch die von ihm Beschützten dargestellt:
die Tiere und ihre Herren. Insgesamt bevölkerten so etwa
20 Figuren das kleine Kästchen (Razzeto 1982: 92).
Ein anderer traditioneller Name für den retablo war "missa"
(Jiménez 1992). Dieser Name leitet sich vom Verwendungszweck
der Retablos her: In einem ritual unter freiem Himmel nahm er
seinen Platz neben anderen Gegenständen ein, wobei die ganze
"Missa" oder "mesa" wiederum die Ordnung der
Figuren des Retablo und zugleich die kosmische Ordnung, die in
ihrer Gliederung von göttlichem Oben und menschlichen Dasein
auf der Erde Christentum und altandiner Kultur gemeinsam war,
spiegeln konnte (Jiménez 1992: 34).
Neben den einfachsten Sanmarcos, die bisweilen auch nur einige
der genannten Heiligen enthielten, bildete sich ein weiterer,
zweistöckiger Typ heraus. In diesem Fall wurde in der Regel
im unteren Stockwerk der auftraggebende Hacendado dargestellt
oder anderes aus dem realen Leben der Bauern und Hirten. Ein bekanntes
Motiv hierbei war "Pasión", wobei der Besitzer
einen Viehdieb auspeitscht, während seine Frau um Gnade bittet
(Del Solar 1992: 19) - auch dies ein Hinweis auf die Schutzfunktion
des Retablos.
Dass
auf diesem Hintergrund die traditionelle Darstellungsweise der
Heiligen streng reglementiert war, kann nicht überraschen.
Wie Joaquín López Antay, der erste überregional
bekannt gewordene Retablokünstler betonte, hatte jeder Heilige
seinen Platz im Retablo, seine Insignien, seine Kleidung und seine
Farbe (Razzeto 1982: 97). "Si uno quiere, puede cambiar,
pero ya no es igual, ya no es ese santo." Nicht künstlerische
Freiheit, Einhaltung der Darstellungsregeln war gefragt, wenn
der Retablo seinen Zweck erfüllen sollte. So lange seine
rituelle Funktion festgeschrieben war, konnte sich somit auch
seine Ästhetik nicht ändern.
Bilder
aus Sarwa
Dass
für solche und ähnliche Rituale gelegentlich auch Tafelbilder
Verwendung fanden, wurde bereits erwähnt. In der Kultur der
Inka spielte Malerei eine bedeutende Rolle. Die Wände zeremonieller
Gebäude waren oft bemalt, und bis heute sind zahlreiche bemalte
Holzgefäße (Qeros) erhalten. Im Gegensatz zu anderen
präkolombinischen künstlerischen Techniken hat sich
die Kunst des Malens in der späteren Volkskunst nur wenig
fortgesetzt, was nicht zuletzt auf die heftige Verfolgung bildlicher
Darstellungen bei den Indios durch die spanischen Missionare zurückzuführen
ist. Wie einige Chronisten berichten , diente die Bemalung von
Tafeln bei den Inkas, ähnlich wie die Knotenschnüre
(quipus) auch der Buchführung über die Bevölkerung
und über vorhandene Ressourcen.
Ein
bemerkenswerte Ausnahme stellt das Dorf Sarwa (oder Sarhua in
der spanischen Schreibweise) im südlichen Ayacucho dar. Eine
lokale Legende besagt, daß sich dorthin einst die von den
Spaniern aus Cuzco vertriebenen Maler flüchteten. Sicher
ist, daß sich in Sarwa schon zur Kolonialzeit die Tradition
herausbildete, jungen Familien beim Hausbau die Verbundenheit
der Verwandten und Freunde durch eine bemalten Stützbalken
am Haus zu zeigen. Auf diesem Balken verewigten sich die Beteiligten
durch selbstgemalte oder auch von anderen gefertigte Portraits,
die sie in charakteristischen Lebenszusammenhängen zeigen.
Der Balken ist somit zugleich eine symbolische Repräsentation
der gemeinschaftlichen Arbeit des Hausbaus. Zuständig für
dieses rituelle Geschenk an die Familie war der Gevatter der Familie,
der durch diese selbstgewählte Verwandtschaftsbeziehung eine
besondere Verantwortung übernommen hatte. Die Balken heißen
daher auch "Gevatterbalken".
Später
wurde aus den Balken ein großes bemaltes Brett, das äußerlich
auf einem Stützbalken angebracht wurde. Das älteste
erhaltene Brett datiert aus dem Jahr 1876 (Nolte 1991: 14). Neben
der Darstellung der "Familienchronik", bzw. der am Hausbau
beteiligten erweiterten Familie, weisen alle noch erhaltenen Bretter
an ihrer Spitze eine Darstellung der Sonne (Inti), und teilweise
auch der "Wamanis", der traditionellen Berggötter
in der Umgebung des Dorfes auf. Im Feld darunter sind harawi-Sängerinnen
und Chicha-Träger abgebildet, die ebenfalls auf vorspanische
religiöse Riten verweisen, zugleich aber auf unentbehrliche
Elemente bei der Feier zur Einweihung des neuen Hauses.
Am
unteren Ende des Brettes, über der obligatorischen Widmung
der Gevatter hingegen ist jeweils die Muttergottes dargestellt,
die zugleich die "pachamama", die Mutter Erde repräsentiert.
Christliche und vorchristliche religiöse Symbole umrahmen
so die ganze Familie und gewähren dem erbauten Haus und seinen
Bewohnern Schutz. In den dazwischen liegenden Feldern sind diejenigen
Familienangehörigen abgebildet, die aufgrund ihrer sozialen
Stellung in der Gemeinde zur Mithilfe am Bau in der Lage und verpflichtet
sind (Araujo 1998). Wichtig bei diesen Gevatterbalken war, wie
bei den Retablos, nicht die künstlerische Qualität,
sondern die "Richtigkeit" des Abgebildeten.
Von
der artesanía zur arte popular
Der
allmähliche Zerfall traditioneller bäuerlicher Lebensformen,
der freilich in Ayacucho weniger schnell voranschritt als in anderen
Landesteilen, brachte einen Rückgang der Nachfrage nach vielen
dieser Gegenstände mit sich. Die Folge war ein Niedergang
auch der handwerklichen Produktion und die bis heute anhaltende
Emigration in die großen Städte, vor allem nach Lima
. Andererseits erlaubte jedoch die wachsende Bedeutung der (klein)-städtischen
Zentren, vor allem der Departementhauptstadt Ayacucho eine verstärkte
Spezialisierung und Professionalisierung der handwerklichen Produktion.
Die in die bäuerlichen und kirchlichen Rituale eingebundene
Produktion künstlerischer Gebrauchsgegenstände reichte
nicht mehr aus, neue Märkte waren gefragt. Neben einer Weiterentwicklung
des Gebrauchshandwerks auf neue Bedürfnisse, die allerdings
immer stärker von industriell hergestellten Produkten befriedigt
wurden, bot seit etwa den vierziger Jahren der beginnende Tourismus
eine Möglichkeit, auch kunsthandwerkliche Gegenstände
ohne direkten Gebrauchswert abzusetzen.
So
wurde z. B. aus dem alten, fast schon aussterbenden Sanmarcos
ab etwa 1940 (Macera/Wiesse 1997: 22) der heutige Retablo , von
dem jährlich Zehntausende in alle Welt verkauft werden. Die
Heiligen wurden durch "typische Szenen" ersetzt: Darstellungen
bekannter Feste, ländliche Szenen wie die Kaktusernte oder
Stierkampf, die handwerkliche Produktion selbst (Hutmacherei,
Maskenbildnerei, Weberei etc.), die kirchlichen Prozessionen vor
allem der Karwo-che, Legenden und Rituale und vieles mehr tauchten
in den Retablos auf. Dabei vermehrte sich die Zahl der Figuren
sprunghaft, manche Retablos bekamen drei oder vier Stockwerke,
wurden breiter und bis über einen Meter hoch. In einzelnen
Fällen wurde schließlich auch die Form des viereckigen
Kastens mit bemalten Türen und einem flachen Dach aufgebrochen.
Selbst die Türen werden bisweilen noch als Kästen gearbeitet,
um noch mehr Figuren unterbringen zu können.
Die
Töpfer zogen bald nach. Teilweise übernahmen sie Motive
der Retablisten, teilweise entwickelten sie eigene Motive und
vor allem Formen, die aus Elementen der herkömmlichen Gebrauchskeramik
hergeleitet wurden. So sind etwa die ursprünglich zum Schutz
der Häuser auf die Dächer der Dörfer gestellten
kleinen Tonkirchen längst in allen Größen, und
bereichert um folkloristische Szenen, erhältlich. In Quinua,
dem Zentrum der ayacuchanischen Keramik, das auf dem Weg in die
Urwaldgebiete liegt, wurden typische Figuren aus der Volkstradition
wie die "chunchos" (Urwaldbewohner) oder Musiker zu
beliebten Motiven für freistehende Einzel- oder Gruppenfiguren,
wobei die Töpfer aus Quinua große Fantasie und oft
auch satirisches Temperament entwickelten, dabei jedoch bis in
die 90er Jahre hinein in die traditionelle Formensprache und die
durch die lokal vorhandenen Farberden vorgegebenen Farbmuster
eingebunden blieben.
Die
traditionelle Weberei, deren wichtigste Produkte die verschiedenen
traditionellen Kleidungsstücke vor allem der Frauen waren,
wurde bereits in den sechziger Jahren durch die ganz Lateinamerika
durchlaufende Welle von "Entwicklungsprojekten" des
amerikanischen Peace Corps "modernisiert". Neue Motive
und Muster und Chemiefarben hielten Einzug, Absatzmärkte
im Ausland für in Ayacucho neuartige Produkte wie Wandteppiche
wurden erschlossen. Letztlich konnten diese Produkte sich aber
als nicht hinreichend "typisch" durchsetzen. In einer
zweiten Erneuerungswelle suchten sich die Weber ihre Motive in
der Inka- bzw. der lokalen vorinkaischen Warikultur und entdeckten
die zahlreichen natürlichen Färbemittel und -techniken
wieder.
Besonders
hart traf die Krise die Alabasterbildhauer, die einst weit über
die Grenzen Perus hinaus exportiert hatten (González Carré
u.a. 1995: 237). Zusammen mit ihrem exklusiven Kundenkreis aus
kirchlichen Würdenträgern und "aristocracia huamangina"
war sie bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu verschwunden
(Arguedas 1985: 161). Die wenigen verbliebenen Werkstätten
von "talladores de piedra" verlegten sich auf das Schneiden
und Zusammenkleben von "Flughafenkunst" wie Aschenbechern,
Repliken der Kathedrale oder des Obelisken von Quinua, und Weihnachtskrippen
in Ostereiern.
Die
Malerei von Sarwa erfuhr im abgelegenen Dorf selbst zunächst
keine neuen Impulse. Anders als die Töpfer, Mateschnitzer
oder Retablisten waren die Maler von Sarwa auch keine handwerklichen
Spezialisten, die vom Verkauf ihrer Produkte ganz oder teilweise
ihren Lebensunterhalt bestritten (Evanán Poma 1982). Erst
mit der massiven Emigration seit den siebziger Jahren trat die
Malerei von Sarwa in eine neue Entwicklungsstufe ein. Einige der
künstlerisch begabtesten Maler des Dorfes gründeten
in Lima eine Werkstatt, in der sie auf Holztafeln gemalte Ölbilder
produzierten und auf den Kunsthandwerksmärkten der Hauptstadt
anboten. Diese Bilder verließen das traditionelle Schema
der "Gevatterbalken". Stattdessen begannen die emigrierten
Maler, die ausgeprägt traditionelle Kultur ihres Heimatdorfes
in allen Einzelheiten zu malen. So entstand ein langer Katalog
von Themen, der die grundlegende Mythen, traditionellen Bräuche
des Dorfes, die über den Jahreslauf verteilten landwirtschaftlichen
und handwerklichen Arbeiten und schließlich auch wichtige
Vorgänge aus dem politisch-sozialen Leben der Gemeinschaft
umfasst. Zu den Themen gehört auch der Hausbau und damit
die traditionelle Malerei, die sich somit gewissermaßen
selbst portraitiert.
Der
künstlerische Stil dieser Bilder ist deutlich an den laienhaften
Darstellungen auf den alten Balken oder Hausbrettern orientiert,
weist aber zugleich neuartige professionelle Züge auf. Raumaufteilung,
Farbgebung und Linienführung sind auf diesen Bildern einheitlich
durchgestaltet. Auf dieser Grundlage können auch zahlreiche
Mitglieder einer Werkstatt stilistisch einheitlich Bilder vorlegen,
wie es für den Absatz in der Großstadt gewünscht
wurde. Diese Weiterentwicklung der Malerei von Sarwa fand jedoch
nicht abgetrennt von den Entwicklung im Dorf selbst statt. Die
dörfliche Perspektive wurde in den in Lima produzierten Bildern
peinlich genau gewahrt. Das Bild "Qala vanidoso" (eitler
Stadtbewohner) etwa, in dem die in die Stadt emigrierten Dorfbewohner
karikiert werden, ist in Lima gemalt worden.
Bei
dieser Entwicklung lassen sich zwei gegensätzliche Tendenzen
beobachten, die beide auch als ökonomisch rationale Strategien
angesichts eines sich wandelnden Marktes verständlich sind.
Sie sind daher durchaus auch bei den gleichen Künstlern bzw.
Werkstätten anzutreffen:
-
Die Produktion von in der Regel kleinformatiger Massenware für
die Touristenmärkte der Region, vor allem aber der Hauptstadt
Lima und in gewissem Umfang auch im Ausland. Miniretablos im Streichholzschachtelformat
mit Motiven wie "Kaktusernte" oder kleine grob geschnitzte
Kalebassen mit Darstellungen einer Bauernhochzeit, Miniaturkrippen
und Aschenbecher aus Piedra de Huamanga mit peruanischem Wappen,
oder gewebte Bettvorleger mit Inkamuster sind einige dieser massenhaft
in Heimarbeit hergestellten stereotypen Produkte, die zu Schleuderpreisen
angeboten werden . Das "Typische", oder "lo costumbrista",
ist in diesen Arbeiten weniger durch die Hersteller als durch
den Zwischenhändler definiert, der den artesanos vermittelt,
was auf dem überwiegend städtischen Markt als volkstümlich
oder landestypisch akzeptiert wird.
- die Erarbeitung neuer Inhalte und Ausdrucksformen in meist größeren
aufwendigen Arbeiten durch individuelle Künstler, die die
Gebundenheit der traditionellen Ausdrucksformen der Volkskunst
als Herausforderung für kreative Weitergestaltung annahmen.
Auch dies ist u.a. eine ökonomisch begründete Antwort
auf die Krise des traditionellen Marktes. Die individuell gestalteten
Arbeiten mit neuen, ansprechenden Motiven erzielen weit höhere
Preise als die Wiederholungen tradierter Muster .
Bei den besten Volkskünstlern hat dieser Prozess zu einer
Wiederbelebung des Interesses an der eigenen Kultur geführt.
Manche von ihnen betrieben gründliche Untersuchungen, ja
regelrechte Forschungsreisen in entlegene Dörfer auf der
Suche nach neuen und authentischen Motiven für ihre Werke.
Andere fanden in der Geschichte Ayacuchos und Perus Motive für
ihre Arbeiten. Und einige der Volkskünstler entdeckten, dass
auch die soziale Realität der Gegenwart Stoff für die
künstlerische Bearbeitung bot.
Angeregt
wurden solche Entwicklungen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts
nicht zuletzt durch das Interesse von Künstlern, Literaten,
Historikern oder Akademikern wie dem Dichter und Anthropologen
José María Arguedas, der mit zahlreichen indigenen
Künstlern und Musikern zeit seines Lebens in freundschaftlichem
Dialog stand. Zu nennen sind hier ferner der Historiker Pablo
Maceda, der Maler und Grafiker José Sabogal oder die Schwestern
Alicia und Alfonsina Barrionuevo, die die peruanische Volkskunst
seit der Mitte des letzten Jahrhunderts neu für das Selbstverständnis
auch des kreolischen Peru "entdeckten". Erst seit dieser
Zeit sind uns auch Namen individueller Meister bekannt. Durch
die persönlichen Beziehungen zu diesen Intellektuellen, die
zwar nicht mehr dem naiven Indigenismus der vorangegangenen Generationen
anhingen, sich aber sehr wohl für die Anerkennung der indigenen
Kultur auf nationaler Ebene einsetzten, erfuhren die Volkskünstler
eine Aufwertung ihrer Arbeit und konnten sich mit neuem Selbstbewusstsein
an die Fortentwicklung ihrer künstlerischen Arbeit machen.
Dieses Selbstbewusstsein, das ja auch die Reflexion über
die eigene Rolle, ein Bewusstsein der Künstler von sich selbst
implizierte, bedeutete zugleich den eigentlichen Übergang
von der "artesanía" zur "arte popular".
Der kulturelle Kontext von Produzenten und Abnehmern der Werke
ist nicht mehr identisch wie in der traditionellen Produktionsweise.
Die neue Kundschaft schätzt die "artesanía"
nicht mehr wegen ihres materiellen oder rituellen Gebrauchswerts,
sondern als künstlerisches Objekt oder als ethnographische
Trouvaille - für beides kann "arte popular" stehen.
Mit
dieser Ermutigung ging daher auch eine starke Beeinflussung durch
die an der "arte popular" interessierten Intellektuellen
einher, die tatsächlich oder im übertragenen Sinn die
Rolle von Paten ("padrinos") mit den dieser Rolle in
der andinen Kultur zugewiesenen Rechten und Pflichten einnahmen.
Die herausragenden Künstler gehörten und gehören
teilweise selbst der lokalen Bildungselite an und teilen deren
Neigung, Traditionen zu erfinden und auszuschmücken, die
dann wieder von den Intellektuellen feingeschliffen und als Rohmaterial
für ihre eigenen Arbeiten verwendet wurden. In diesem Wechselspiel
entstanden hervorragende und innovative künstlerische Arbeiten,
aber auch manche fragwürdige Interpretationen.
"El
retablo es un cerro, por eso lleva un triángulo en la parte
superior. Cuando se realiza el pago al apu, el cerro se abre.
Entonces se aprecia dentro todo un mundo mágico que intento
plasmar en camarines y púlpitos con imágenes religiosas
y de la vida cotidiana," diktierte z.B. einer der großen
Retablisten, Jesús Urbano, einer Journalistin, die diese
gern gehörten, der Geschichte des Retablo jedoch recht fernen
Erläuterungen im offiziellen Staatsanzeiger abdruckte (Pinedo
2002). Das Museo Nacional de la Cultura Peruana stellt auf seiner
Internetseite einen der großartigen Keramikkünstler
aus Quinua, Mamerto Sánchez, vor und zitiert ihn mit der
Bemerkung, dass sich sein Vater seine Kunst noch direkt vom lokalen
Wamani (Berggott) geholt habe: "Y conversaba con él.
'Cuando regresaba, había sacado varios modelos sin haberle
enseñado nadie, así mediante el wamaní'"
(Museo Nacional 2002). Derartige Stilisierungen, die immer auch
ein Stück Wirklichkeit reflektieren, sind Teil des Findungsprozesses
für den Standort dieser hochentwickelten Volkskunst. José
María Arguedas zufolge, der die Entwicklung der ayacuchanischen
Volkskunst stets mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit verfolgte,
war es der ausgeprägt mestizische Charakter der ayacuchanischen
Volkskünstler, der es ihnen besser als dem rein ländlich
geprägten Kunsthandwerk anderer Region ermöglichte,
diesen Wandel kreativ mitzugestalten (Arguedas 1958: 162).
Ihren
heutigen Platz in den nationalen Museen und auf den Kulturseiten
der angesehen Zeitungen hat die ayacuchanische und überhaupt
die peruanische Volkskunst nicht ohne heftigen Widerstand erreicht.
Exemplarisch machten das die heftigen Polemiken deutlich, als
1975 der Premio Nacional de Cultura des Nationalen Kulturinstituts
von der Jury an Joaquín López Antay vergeben wurde
. López Antay war damals bereits ein bekannter Retablist,
der von Arguedas "entdeckt" und gefördert worden
war und mit seinem persönlichen Stil und seinen zahlreichen
neuen Motiven auch international Anerkennung gefunden hatte. Gleichwohl
empfanden es viele "artistas cultos" aus der Hauptstadt,
die sich in ihren Arbeiten an den international stilbildenden
Kunstformen orientierten, als Beleidigung, dass ein "Kunsthandwerker"
(artesano) diesen Preis erhielt. In einem Protestschreiben des
Malers und ehemaligen Direktors der Escuela Nacional de Bellas
Artes, Juan Manuel Uribe, hieß es damals: "El artesano
no es un creador sino un conservador de formas heredadas que,
con más o menos habilidad o espontaneidad, reproduce serialmente."
Während López Antay gerade für die künstlerische
Emanzipation des Volkskünstlers vom handwerklich bestimmten
Standard der Produktion stand, insistierten die empörten
Vertreter der etablierten Kunst auf dem Gegenteil. Von einer Ausdrucksform
der "masa indiferenciada" war die Rede, und man schlug
sogar einen Akt öffentlicher Wiedergutmachung an den nicht
berücksichtigten und damit "beleidigten" Kandidaten
für den Preis aus dem Umfeld der "artistas cultos"
vor ("Homenaje..." 1997:75).
Im
Hintergrund der Polemik um die Preisverleihung an López
Antay stand eine weit tiefer reichende Auseinandersetzung. Die
Entscheidung der Jury war ganz im Sinne der damaligen Militärregierung,
die durch die Einführung zweisprachiger Erziehung in den
ländlichen Schulen, die Ausdehnung eines reformierten Schulwesens
überhaupt und eben auch die Würdigung traditioneller
Kultur ihre Landreform auch mit
einer auf die Wiederaneignung einer indigen ausgerichteten peruanischen
Nationalität orientierten Kulturpolitik stützen wollte
. Dies ist ihr letztlich misslungen, da die in ihren traditionellen
Gemeinden verankerten Kleinbauern, um deren Kultur es sich handelte,
die an den Großbetrieben orientierte Landreform nicht akzeptierte.
Gleichwohl öffnete die neue Kulturpolitik Raum für die
Entfaltung eines neuen Selbstbewusstseins der ländlichen
Gesellschaft und ihrer lokalen Eliten, den die Militärregierung
keineswegs zu kontrollieren in der Lage war, wie etwa die heftigen
Zusammenstöße 1969 um die Schulgeldfreiheit zeigten.
Dieser frühe Konflikt mit der Militärregierung, bei
dem es mehrere Tote gab, grub sich tief in das kollektive Gedächtnis
Ayacuchos ein (González Carré u.a. 1995:131).
Soziale
und politische Konflikte in der Volkskunst
Ein Ergebnis dieses neuen Selbstbewusstseins war auch die Entdeckung
und kreative Wiederaneignung der Geschichte der sozialen Kämpfe
der Indios und speziell der Bewohner der Region Ayacucho gegen
ihre wechselnden Unterdrücker als Motiv für Werke der
Volkskunst. Historische Daten, die an den Freiheitskampf der indianischen
oder auch mestizischen Bevölkerung der Region erinnerten,
wurden vermehrt zum Gegenstand künstlerischer Gestaltung
und Interpretation.
Derartige
Themen waren nicht völlig neu. "Mates narrativos"
mit historischen Szenen aus dem Krieg gegen Chile oder wichtigen
lokalpolitischen Ereignissen wurden bereits Jahrzehnte vorher
dokumentiert (Sabogal [1945] 1987). Während der rituell wenig
festgelegte Mate sich gewissermaßen als Material für
solche künstlerisch freien Darstellungen - die gleichwohl
selten waren - anbot, musste im Fall der Retablos erst ein Prozess
der Desakralisierung abgeschlossen sein, ehe die Künstler
sich derartigen Themen zuwenden konnten. Die während der
Kolonialzeit und bis ins 19. Jahrhundert blühende Kunst der
Skulpturen in Piedra de Huamanga hingegen hatte, neben der Deckung
des kirchlichen und häuslichen religiösen Bedarfs, schon
während des Unabhängigkeitskrieges gegen Spanien eine
große Nachfrage nach allegorischen Darstellungen der heldenhaften
Kämpfer befriedigt (Majluf/Wuffarden 1998: 107ff).
Immerhin
bot auch die religiöse Thematik selbst Zündstoff, vor
allem in der Gestalt des erwähnten "Santiago",
dessen doppelbödige Erscheinung als Beschützer, aber
auch Aggressor der Indios nie ganz aus dem Bewusstsein geriet
(Huhle 1994). Hoch zu Pferd gerüstet, und unter den Hufen
entweder die geschlagenen Mohren oder Indios, bzw. die zu beschützenden
Tiere der Bauern, ist er seit Beginn der spanischen Präsenz
Amerika ein ebenso schillerndes wie häufiges Motiv von Darstellungen
sowohl in der offiziellen Kunst der Kirchen und Paläste wie
in allen Spielarten der Volkskunst, so auch in Skulpturen aus
Piedra de Huamanga und Retablos, wo er nicht nur im Gefolge der
übrigen Schutzheiligen, sondern bisweilen auch als einzige
Gestalt auftritt. Santiago war auch ein beliebtes Motiv auf kolonialen
"Qeros", bemalten Trinkgefäßen in inkaischer
Tradition, die eine der Traditionslinien andiner Malerei darstellen
(Flores 1995: 100f).
Zum
ikonographischen Reservoir, aus dem die Volkskünstler des
20. Jahrhunderts schöpfen konnten, gehören auch die
zahlreichen Bilder und Skulpturen, die von teils indianischen,
teils mestizischen Künstlern während der Kolonialzeit
und noch im 19. Jahrhundert für die Kirchen und Klöster
Perus geschaffen worden waren. Ihre oft drastischen, heute naiv
anmutenden Darstellungen von christlichen Schlüsselthemen
wie dem Höllensturz oder von Heiligenleben, aber auch von
Ereignissen aus der Geschichte der Conquista in Peru lassen sich
unschwer als Quellen der Inspiration für manche der heutigen
Volkskünstler ausmachen.
So
findet sich im Kloster Santa Clara in Cuzco ein Reliefbild aus
bemalter Gipspaste mit einer Darstellung des von vielen Chronisten
überlieferten und auch in anderen Kirchen oft gemalten "Wunders
von Sunturhuasi" während der Belagerung Cuzcos durch
die Truppen des Inkas Manco II (Gisbert/Mesa 1991: 241). Nur dem
Eingreifen Santiagos und Marias, die den übermächtigen
indianischen Truppen Sand in die Augen streute, war es damals
zu verdanken, dass die Inkas die Stadt nicht zurückeroberten.
Das anonyme, aus dem 18. Jahrhundert datierende Bild verweist
nicht nur wegen des verwendeten Materials, sondern auch durch
die drastische Art der Darstellung eines Häuserkampfs im
unteren Teil auf heutige Retablos.
"Violencia
política" als Thema der neueren ayacuchanischen Volkskunst
Ayacucho
ist ein abgelegenes Berggebiet im Südosten Perus mit einer
halben Million Einwohner, deren Haupterwerb noch immer die Landwirtschaft
ist. Seit 1980 war Ayacucho Zentrum der Aktivitäten der Aufstandsbewegung
"Leuch-tender Pfad". Wie in einem Brennglas hat sich
seit den achtziger Jahren im Departement Ayacucho die im ganzen
Land zunehmende politische Gewalt konzentriert. Ab 1983 war das
Gebiet die meiste Zeit unter Ausnahmezustand gestellt. Die Re-pres-sion
von Militär und Polizei, aber auch die Aktionen der Aufständischen
haben der Bevölkerung einen hohen Blutzoll abverlangt. Mehr
als zehntausend Tote, meh-rere Tausend Verschwundene, verlassene
Dörfer und entvölkerte Landstriche sind das Ergebnis
der Auseinandersetzungen. Seit 1993 hat in einigen Teilen der
Region ein teilweiser Prozess der Rückkehr der Bevölkerung
eingesetzt (Huhle 1997). Angst und Anspannung sind je-doch noch
immer zu spüren, über viele Ereignisse im Zusammenhang
mit dem Kr-ieg wurde nicht gesprochen. Erst die Anhörungen
der im Juni 2001 gegründeten "Kommission für Wahrheit
und Versöhnung" in verschiedenen Orten der Region vermochten
das Schweigen zu brechen. Erinnerung an die Leiden der Kriegszeit
ist endlich von der Gesellschaft wieder erlaubt.
Eine
nicht-verbale Form der Erinnerung hatten aber schon vorher die
Volkskünstler von Ayacucho betrieben. Der Krieg zwischen
der Guerilla des "Leuchtenden Pfads" und der peruanischen
Armee war für die Begabtesten unter ihnen eine besondere
Herausforderung. In einer Zeit des öffentlichen Beschweigens
der schrecklichen Geschehnisse kam ihrer Kunst besondere Bedeutung
zu. Bekannte und unbekannte Volkskünstler setzten sich intensiv
mit den ihnen verfügbaren Mitteln mit der die Region bedrückenden
politischen Gewalt auseinander: die Musiker in zahlreichen neuen
Liedern, und die bildenden Künstlern in Retablos, Webarbeiten,
Stein- und Tonskulpturen und Tafelbildern, die die alten Traditionen
der Volkskunst zugleich bewahren und erneuern. Dabei konnten sie
auf die tradierte Formensprache zurückgreifen, zugleich aber
die neu gewonnen künstlerischen Freiheiten zu bisweilen bewegenden
Höhepunkten führen. Unter dem Druck der Situation ab
1980 sollte sich zeigen, wie stark und vielfältig auch traditionell
gebundene Volkskunst in der Lage ist, auf veränderte politisch-soziale
Entwicklungen kreativ zu reagieren, ohne ihre überlieferte
Formensprache und Techniken aufzugeben.
Einige
der Künstler hatten bereits vor dem Beginn des Kriegs von
Sendero Luminoso Themen historischer oder aktueller Gewalt bearbeitet.
Florentino Jiménez etwa arbeitete seit den frühen
siebziger Jahren an historischen Retablos mit Themen wie dem Krieg
der Montonera von General Cáceres gegen die chilenischen
Invasoren oder zum Unabhängigkeitskrieg gegen die Spanier.
1976 griff er erstmals ein aktuelles politisches Thema auf (Huertas
1987: 117ff). Joaquín López Antay hatte bereits
Jahre zuvor einen zweistöckigen Retablo mit einer Szene aus
dem Gefängnis von Huancavelica im oberen Stockwerk gefertigt
- im unteren Stockwerk findet sich das ganz normale Inventar eines
Sanmarcos (Mendizábal Losack 1963/64: Fig. 31).
Nach
1980 wurden traditionelle Themen politischer Gewalt wieder aufgegriffen
und häufiger bearbeitet. Nicht zufällig waren Themen
wie die "leva", das gefürchtete Einfangen der jungen
Leute auf dem Land durch die jeweilige Armee, das in den Andenländern
eine lange düstere Tradition hat, plötzlich Motiv für
große Arbeiten als Retablo, Ölbild, oder Alabasterskulptur.
Sie erschienen vielleicht weniger verfänglich als die direkte
Auseinandersetzung mit dem aktuellen Geschehen, die jedoch ebenfalls
schon wenige Jahre nach Beginn des Krieges einsetzte.
Diese
und die neueren, gegenwartsbezogenen Arbeiten ab 1980 entstanden
großenteils als Unikate und unter teilweise dramatischen
Umständen. Die Werke selbst hatten z.T. Schicksale, die ihrem
Thema durchaus entsprechen. Manches Stück wurde unwiederbringlich
zerstört, weil Soldaten es bei einer Kontrolle für subversiv
befanden und mit dem Gewehrkolben traktierten. Andere Motive dagegen
fanden unter den Bedingungen militärischer Besetzung und
mehrseitiger Bedrohung einen neuen Markt in Kreisen von Intellektuellen,
die sich selbst mit den Ursachen der politischen Gewalt auseinander
setzten. Selbst die in Ayacucho stationierten Militärs interessierten
sich für derartige Arbeiten, zumal dann, wenn sie in ihrer
Aussage ambivalent genug schienen, dass jeder sie nach seiner
Vorstellung interpretieren konnte - eine Strategie, wie sie die
Alabasterschneider bereits während der Unabhängigkeitskriege
angewandt hatten (Majluf/Wuffarden 1998: 118). Zeitweise entstand
hier sogar wieder ein neuer Markt für kleinere Massenartikel
mit dem Gewaltthema, die bei Soldaten wie Touristen Absatz fanden.
Doch
es sind die zahlreichen großformatigen und mit großer
Expressivität gestalteten Einzelarbeiten, die in unterschiedlicher,
aber stets eindrucksvoller Weise die mitleidende Auseinandersetzung
der Künstler mit der brutalen Gewalt in ihrer Heimatregion
belegen. Einige seien hier genauer vorgestellt.
Tafelbilder
der Migranten aus Sarwa
Als
ab 1980 im Departement Ayacucho die bewaffneten Aktionen des "Leuchtenden
Pfads" (Sendero Luminoso) begannen, spürten dies zunächst
fast ausschließlich die Bewohner abgelegener Dörfer
wie Sarwa. Die Bauern hatten wenig Möglichkeit, sich gegen
die bewaffneten Eindringlinge des Sendero oder ihre vorgeblichen
Beschützer von Polizei und Armee zu wehren. Stumm mussten
sie oft genug die Misshandlungen durch die ungebetenen Besucher
ertragen. Doch sie ließen sich in ihrer großen Mehrheit
von keiner Seite vereinnahmen. Für die Darstellung gelegentlich
auftauchender wahlkämpfender Politiker, die dann nie wieder
etwas für das Dorf taten, hatten die Künstler von Sarwa
bereits den Titel "Uma Muyoy" geprägt, den wir
ganz aktuell am besten mit "Rinderwahnsinn" übersetzen
können. Ihr skeptischer Blick blieb unbeirrbar, auch wenn
sie nach Lima emigrieren mussten, wo etliche von ihnen in einer
Reihe von Ölbildern neben den traditionellen Gebräuchen
des Dorfes auch diese leidvollen Erfahrungen festhielten. Bilder
wie "Wahnsinn" oder "Verfluchte" drücken
in Text und Bild drastisch aus, was die Bauern von den Parteien
in jenem schmutzigen Krieg hielten:
"Onqoy"
(Wahnsinn)
"Mit
Maschinenpistolen, Messern, Bomben und der Fahne, und in verschiedener
Kleidung kamen fremde Elemente als Eindringlinge in die Dorfgemeinde.
Haus für Haus holten sie die Angehörigen der Gemeinde
hervor und zwangen sie unter Drohungen, an einer Versammlung teilzunehmen
und ihren falschen Versprechungen von sozialer Gerechtigkeit und
besserem Lebensstandard zuzuhören. Die einfachen unschuldigen
Bauern, die nur Quechua sprechen, und ihre eigene traditionelle
Weltanschauung haben, verstehen die Rede und die Versprechungen
der Fremden nicht. Verwirrt durch den Wechsel in ihrem Leben flehen
sie die Berggötter und die Schutzheiligen der Gemeinde dringend
um Schutz an."
"Maldecidos"
(Die Verfluchten)
"In
verschiedenen Gemeinden und auf Wegen in die Stadt halten die
verfluchten Militärs mit Schlägen und Fußtritten
unschuldige und wehrlose Menschen fest, auf der Suche nach den
eingedrungenen Übeltätern, den tollwütigen Terroristen.
Durstig und hungrig und halbtot werden die Festgenommenen in die
Stadt geführt, wo sie von Leuten gerichtet werden, die keine
Ahnung vom traditionellen Leben haben, das seine Wurzeln in der
Inkazeit hat."
Keramik:
"Huelga campesina"
Größte
Detailgenauigkeit ist auch das Charakteristikum eines bemerkenswerten
Werkes, das der junge Keramiker Gregorio Aparicio aus dem Töpferdorf
Quinua bei Ayacucho 1985 geschaffen hat. Es handelt sich um einen
fünfstöckigen, ca. 1m hohen und 70m breiten Retablo,
der jedoch nicht mit den aus Mehlbrei geformten und bunt bemalten
Figuren ausgestaltet ist, sondern ausschließlich mit aus
Ton gefertigten Figuren und Gebäuden.
Die
fünf Stockwerke schildern eine durchgehende Geschichte. In
der obersten Etage demonstrieren Bauern im Töpferort Quinua
gegen die hohen Lebenshaltungskosten, während gleichzeitig
vor dem Polizeiposten des Ortes in einem LKW einige Einwohner
abtransportiert werden. In der nächsten Etage wird ein Angriff
von Sendero Luminoso auf einen Polizeiposten geschildert, bei
dem einige Angehörige der Antiguerilla-Sondereinheit der
Polizei, der "Sinchis" fallen. In der dritten Etage
dreht sich das Bild um. Per Hubschrauber kommt militärische
Verstärkung, die Senderisten sind tot oder gefangen. Bild-
und. Tonreporter halten das Geschehen fest, wobei sie sich auffällig
eng an die Seite der Militärs plazieren.
Doch
die Toten und Gefangenen, sind sie wirklich Senderisten? Bei näherem
Hinsehen tauchen Zweifel auf. Während die Kämpfer der
zweiten Etage durch ihre Waffen und durch die charakteristischen,
das Gesicht bedeckenden Tücher sowie durch Embleme auf ihren
Mützen eindeutig zu identifizieren sind, fehlen den Gefangenen
der dritten Etage alle diese Merkmale. Die Anwesenheit klagender
Frauen deutet eher darauf, dass die Besiegten einfache Bauern
sein könnten. Paradoxerweise ist es gerade dieser Mangel
an Eindeutigkeit, der genau die tatsächlichen Verhältnisse
beschreibt. In der vierten Etage schließlich klären
sich die Dinge auf. Wiederum am Polizeiposten von Quinua findet
sich eine enorme Zahl von Gefangenen, in der Mehrzahl einfaches
Volk, während eine kleine Gruppe, durch dunkle Gesichter
und das Symbol von Hammer und Sichel gekennzeichnet, den Aufständischen
zuzurechnen ist.
Doch
ist die Geschichte damit nicht zu Ende. Es steht noch die fünfte
Etage aus. Sie führt uns in ein Inferno, das auch in der
an drastischen Darstellungen wahrlich nicht armen Volkskunst Ayacuchos
seinesgleichen sucht. Wehrlose Männer und Frauen werden von
schwer bewaffneten Soldaten gnadenlos niedergemetzelt. Im Vordergrund
liegen verstümmelte Körperteile umher, während
im Hintergrund die Soldaten noch mit der Vollendung ihres mörderischen
Werkes beschäftigt sind. Was in der üblichen Retablotechnik
mit ihren grellen Farben vermutlich unerträglich wie schlechtes
Kino wirken würde, verschlägt dem Betrachter in der
sparsamen Gestaltung der Keramik mit ihren fahlen Erdfarben den
Atem. Für sich genommen, gehört diese Darstellung zweifellos
zu den ergreifendsten Schilderungen des Schreckens, die die ayacuchanische
Volkskunst hervorgebracht hat. Darüber hinaus aber ist sie
durch ihre Plazierung als Endpunkt der szenischen Folge des Retablos
eine massive Anklage. Da sie nicht etwa einer Kampfszene, sondern
der Darstellung der Gefangenschaft folgt, erscheint das Geschehen
als absolut mutwilliges Gemetzel, als pures Massaker. Gerade in
Quinua haben die Volkskünstler Erfahrungen gemacht, die es
nicht verwunderlich erscheinen lassen, dass sie zu solchen Darstellungen
finden. 1983 holten die "Söldner", wie die Bewohner
sie nannten, eine große Zahl von jungen Keramikern nachts
aus ihren Häusern und verschleppten sie aus dem Dorf. Acht
wurden tot gefunden, darunter ein Bruder des Schöpfers des
geschilderten Werkes. Andere, wie Gregorio Aparicio selbst und
ein weiterer Bruder, konnten sich gerade noch retten. Des toten
Bruders letztes Meisterwerk - er war kurz vor dem Tod von seiner
ersten internationalen Ausstellung aus Kanada zurückgekehrt
-, eine großartige Quinuakirche, steht, ständige stumme
Erinnerung, im Eingangsraum des Hauses der Familie Aparicio.
Textilkunst:
"Las trenzas"
Beispiele
für eine ganz andersartige, wesentlich subtilere Form der
Auseinandersetzung mit der Situation in Ayacucho finden sich in
der Webkunst. Die Familie Oncebay gehört zu den Erneuerern
dieser in Ayacucho traditionellen Kunst, vor allem was die Wiederentdeckung
und Weiterentwicklung der Naturfarben, aber auch die Motive angeht.
Unter den gegenständlichen Motiven, die Saturnino Oncebay
entworfen hat, findet sich in zahlreichen Varianten eine Gruppe
von Frauen, die dem Betrachter den Rücken kehren. In seiner
elementarsten Form, die hier vorgestellt wird, besteht dieses
Motiv aus zwei stark stilisierten Frauenfiguren, mit einem breiten,
gedrungenen Körper, einem sechseckigen Halstuch, einem schwarz-weißen,
der Tracht von Huamanga nachempfundenen Hut und zwei dicken schwarzen
Zöpfen. Letztere sind stets in der Manier echter Zöpfe
geflochten und ragen aus dem gewebten Teppich heraus, wodurch
sie die ansonsten sehr strenge Geometrik des Teppichs auflockern.
Zugleich betonen diese Zöpfe, dass sich die Frauen vom Betrachter
abwenden, eine sehr ungewöhnliche Perspektive, die nicht
ohne symbolische Bedeutung sein kann. Dass dieses Sich-Abwenden
etwas mit der Gewalt in Ayacucho zu tun hat, darauf deutet auch
die Farbgebung des Teppichs hin. Die Körper der beiden Frauen
sind, in Anlehnung an die zahlreichen farbigen Röcke, die
die andinen Bäuerinnen übereinander zu tragen pflegen,
aus einzelnen Segmenten in der Art einer Zwiebel zusammengesetzt,
deren einzelne Schichten eine genau abgestufte Folge von Farbwerten
bilden, und zwar einmal Rot und bei der andern Frau Grün.
Rot für Sendero Luminoso, Grün für die Militärs
- eigentlich naheliegend, und doch haben es, wie Saturnino Oncebay
erläutert, die wenigsten Nachahmer dieses Motivs verstanden.
Denn die Frauen mit den Zöpfen sind inzwischen auf allen
Kunsthandwerksmärkten Südamerikas in unzähligen
meist schlechten Imitationen in allen möglichen Farben zu
finden. Kaum jemand dürfte sich dabei der leidvollen Entstehungsgeschichte
des Motivs bewusst sein.
Retablos:
"Los mártires de Uchuraccay" (Januar 1984) von
Florentino Jiménez ( und "Pobrechalla campesino"
(1988) von Teodoro Ramírez 1988)
Ende
Januar 1983 wurde die Grausamkeit des Krieges, der seit zweieinhalb
Jahren in den Bergen hinten in Ayacucho seine Opfer fordert, erstmals
auch in der Hauptstadt Lima, und damit in der Öffentlichkeit
des Landes, wahrgenommen. Acht Journalisten waren von Ayacucho
aus aufgebrochen, um ein Massaker aufzuklären, das einige
Tage zuvor in einem entlegenen Dorf stattgefunden hatte. Kurz
vor ihrem Ziel wurden sie und ihr einheimischer Führer in
dem Weiler Uchuraccay unter bis heute nicht restlos geklärten
Umständen bestialisch erschlagen. Regierung und Militäradministration
taten alles, um eine Aufklärung der Hintergründe des
Verbrechens zu unterbinden. Statt eines geordneten Gerichtsverfahrens
wurde -unter Vorsitz des Romanciers Vargas Llosa - eine "unabhängige
Untersuchungskommission" eingesetzt, die zu dem Ergebnis
kam, der Mord sei das Ergebnis einer tragischen Verwechslung und
letztlich der barbarischen Unwissenheit der Dörfler gewesen.
Da bis heute die Militärs keine - oder allenfalls nachweislich
falsche - Aussagen machen, ist auch die weithin akzeptierte Gegenthese,
dass das Verbrechen auf direkte Anweisung der Militärs geschehen
sei, nicht eindeutig zu beweisen. Ob die im Jahr 2001 eingesetzte
Wahrheitskommission, in deren Mandat das Verbrechen fällt,
die ganze Wahrheit herausfindet, muss abgewartet werden. Der Schleier
des Geheimnisvollen war sicher einer der Gründe dafür,
dass der Mord von Uchuraccay bis heute im Gedächtnis der
Öffentlichkeit lebendiger geblieben ist als die vielen, zum
teil weit größeren Massaker, die ihm in den Jahren
seither folgten. Ein anderer Grund liegt natürlich in der
Tatsache, dass es sich bei den Opfern ausnahmsweise nicht um arme
campesinos, sondern um Journalisten auch aus der Hauptstadt Lima
handelte. Durch ihren Tod lenkten sie das Augenmerk der Presse
mehr als durch jede journalistische Bemühung auf die Geschehnisse
in den Bergen Ayacuchos.
Der
Fall Uchuraccay hat jedoch verständlicherweise nicht nur
in der nationalen Presse besondere Aufmerksamkeit erregt. Er ist
auch tief ins Bewusstsein des Volkes von Ayacucho eingedrungen
und dort bis heute lebendig geblieben, was kaum durch die nur
von Wenigen gelesene Presse zu erklären ist. Die Erinnerung
wird vielmehr durch die traditionellen Medien der mündlichen
und bildhaften Überlieferung bewahrt. Das Massaker von Uchuraccay
gehört zu den wenigen Einzelereignissen des schmutzigen Krieges
von Ayacucho, das immer wieder in der Volkskunst bearbeitet worden
ist. Zahlreiche Lieder wurden dazu komponiert, literarische Texte
verfasst, und vor allem existiert eine Reihe bildlicher und plastischer
Darstellungen. Zwei große Retablos stehen für zwei
verschiedene Erinnerungsformen und Interpretationen aus unterschiedlicher
zeitlicher Distanz zum Ereignis.
"Los
martires de Uchuraccay", die "Märtyrer von Uchuraccay"
entstand 1984, ohne Auftrag, ausschließlich auf Initiative
des Künstlers Florentino Jiménez, der heute als der
angesehenste Retablist Ayacuchos gelten kann. Nicht nur vom Inhalt
her, auch formal ist dieser Retablo ein ungewöhnliches Werk,
das die tiefe Anteilnahme des Künstlers an dem Geschehen
deutlich macht. In drei Etagen wird zunächst der Fußmarsch
der Journalisten nach Uchuraccay, dann die Ermordung, und schließlich
das Begräbnis geschildert. Statt durch eines der üblichen
bemalten Brettchen wird das ganze Werk durch eine als Tryptichon
gestaltete Kreuzigung gekrönt. In der oberen Etage ist besonders
bemerkenswert die individuelle Gestaltung jedes der acht Journalisten
und ihres einheimischen Führers. Im Verhältnis zu den
Figuren der beiden unteren Etagen sind sie in Übergröße
gestaltet. Kleidung und. Ausrüstung sind sehr realistisch
dargestellt (dies zweifellos ein Reflex der ausführlichen
Diskussion dieser Details in der kriminologischen Debatte, die
in der Presse über den Fall geführt wurde). Jeder der
neun Männer ist mit einem kleinen Schild namentlich gekennzeichnet.
Diese namentliche Kennzeichnung, die Don Florentinos Arbeit mit
der ansonsten ganz andersartigen von Teodoro Ramírez gemein
hat, ist äußerst ungewöhnlich. Die andine Kultur
ist nach wie vor kollektiv geprägt, so dass Individualisierung
keinen großen Raum in ihr hat. Das gilt sowohl für
die Autoren der Kunstwerke, die bis vor kurzem ausschließlich
anonym waren (erst seit einigen Jahrzehnten, unter dem Einfluss
bürgerlicher Kultur und vor allem des Marktes, beginnen die
Künstler, ihre Werke zu zeichnen), als auch für die
Darstellungen, die selten einzelne Ereignisse, sondern in der
Regel das Generelle, oft in starren darstellerischen Konventionen,
abbilden. In der stark individualisierten Ausgestaltung der Figuren
der Journalisten und ihrer ausdrücklichen Benennung spiegelt
sich einerseits ohne Zweifel ihre Stilisierung zu den "Märtyrern"
durch die Presse (auch der Begriff der Märtyrer kommt aus
der Presse).
Andererseits
aber ist das Ereignis von Uchuraccay tatsächlich einzigartig.
Massaker an campesinos kennt die Geschichte Perus zuhauf. Die
campesinos beweinen und beklagen ihre Toten, aber sie kämen
nicht auf die Idee, sie als Helden oder Märtyrer zu verehren.
Sie bleiben im Gedächtnis, aber anonym, verbunden mehr mit
ihrer Gemeinde und dem Flurnamen des Ortes, an dem sie starben,
als mit ihrem Namen. Die Journalisten aber gehören keiner
Gemeinschaft der Andenbewohner an, sie müssen über ihren
Namen identifiziert werden und erhalten so einen Sonderstatus,
der ihnen ohnehin gebührt als Personen, die offenbar ohne
Eigeninteresse in die abgeschiedenen Berge kamen und dort umkamen,
ein Ereignis, das den campesinos selbst ohne die zahlreichen mysteriösen
Begleitumstände ungewöhnlich genug erschienen wäre,
um es in die Legende eingehen zu lassen. Da das Schicksal der
Journalisten in keines der Interpretationsmuster der Andenbewohner
passt, übernehmen sie bereitwillig die von den Massenmedien
angebotenen Mystifizierungen. Das Wort von den Märtyrern
ist heute Standard auch unter den ländlichen Bewohnern Ayacuchos.
Von diesem Sonderstatus profitiert in den beiden Retablos auch
der einheimische Führer Juan Argumedo, dessen Figur gewissermaßen
im Schnittpunkt der beiden Kulturen steht. In den Gedenkveranstaltungen
und -artikeln der Limaer Presse bleibt er gewöhnlich, obgleich
unter denselben Umständen wie die acht Journalisten umgekommen,
unerwähnt. Für die Presse von Lima sind die Märtyrer
ihre acht Kollegen. Das lassen die Volkskünstler von Ayacucho
so nicht durchgehen. Wenn sie dem Ereignis von Uchuraccay schon,
aus den genannten Gründen, eine Sonderstellung zubilligen,
dann wird auch der Führer Juan Argumedo, mit vollem Namen,
einbezogen.
In
Don Florentinos Arbeit erhält er darüber hinaus eine
Schlüsselrolle:
Seine ausgestreckte Hand weist nicht den Weg, sondern auf zwei
Tiere, die traditionell in den Anden als Unglücksboten gelten:
die Schlange und den Fuchs. Auf diese Weise holt der einheimische
Führer das ganze unfassliche Ereignis in den Verständniszusammenhang
der Andenbewohner zurück. Zwar weiß er die Zeichen
noch zu deuten, die ihm seine Welt schickt. Doch aufgrund seiner
Funktion gehört er der Welt der Fremden an. Mit ihnen teilt
er die Individualisierung, mit ihnen den Tod. Dieser Tod selbst
wird in don Florentinos Retablo in der mittleren Etage dargestellt,
mit äußerster realistischer Grausamkeit. Mit ihren
Arbeitswerkzeugen, Hacken, Schaufeln, Stöcken und Stricken
bringen die Einwohner von Uchuraccay die fremden Journalisten
um. Die untere Etage schließlich zeigt das "Begräbnis",
doch was für ein Begräbnis! In rasch ausgehobene Löcher
werden jeweils zwei Kadaver gezerrt, wobei der eine mit dem Kopf
zu den Füßen des anderen zu liegen kommt. Alle diese
genauestens geschilderten Details entsprechen den in der Presse
bis dahin (1984) bekannt gemachten Einzelheiten des Geschehens.
Die Presseberichte hat Don Florentino, wie er selbst sagt, genau
studiert. Zwar gab es von Anfang an Hinweise darauf, dass die
Bauern von Uchuraccay das Verbrechen nicht aus eigenem Antrieb,
sondern aufgestachelt oder sogar auf Anweisung der Soldaten begangen
hätten, doch ist das bis heute nicht mit letzter Schlüssigkeit
bewiesen. Dass er diese Möglichkeit in seiner Darstellung
nicht berücksichtigt habe, wurde des öfteren gegen Don
Florentinos Retablo eingewandt. Doch seine Darstellungweise ist
so angelegt, dass diese Frage zurücktritt. 1984 herrschte
in Ayacucho ein Klima brutaler Unterdrückung, die auch viele
Künstler nicht verschonte. Eine Anklage der Militärs
im Mordfall Uchuraccay wäre selbst mit künstlerischen
Mitteln lebensgefährlich gewesen.
Aber
dies ist nicht unbedingt der wesentliche Grund für Florentino
Jiménez' Zurückhaltung. Er hält sich minutiös
an die erwiesenen Details. Und die sind schrecklich genug. In
den Anden verschwinden die Toten nicht vollständig aus dem
Leber der Gemeinschaft. Ein Jahr nach dem Ableben eines Angehörigen
versammeln sich in den Dörfern Ayacuchos die Verwandten noch
einmal, um mit dem Toten zu feiern. Tote müssen gut behandelt
werden, damit sie den Frieden wahren und kein Unheil stiften.
Erste Voraussetzung dafür ist ein angemessenes Begräbnis.
Die im Retablo dargestellte Art, wie die ermordeten Journalisten
verscharrt wurden, gilt den Ayacuchanern als so ungeheuerlich,
dass ihnen dies allein schon als Beweis gilt, dass nicht die Dörfler
von Uchuraccay die Verantwortlichen des Verbrechens gewesen sein
können. Dass sie den Mord begangen haben - gut möglich.
Aber dass sie die Toten auf diese barbarische Weise begraben hätten,
das scheint ausgeschlossen. Also muss es andere Beteiligte geben
haben, die nur Fremde gewesen sein können. Es bedarf somit
keiner Darstellung von Militärs in dem Retablo, um dem Betrachter,
wenn er die Gebräuche der Bauern kennt, klarzumachen, dass
irgend etwas nicht stimmt an der vordergründigen Eindeutigkeit.
Dabei geht es don Florentino nicht darum, vermittels seiner Darstellung
Partei zu ergreifen in dem kriminologischen Streit um die Schuldigen
des Verbrechens. Er gibt vor allem seinem Entsetzen Ausdruck über
eine Tat, die ohne Sinn scheint und nicht einmal im Tod die Ordnung
der Dinge wiederherstellt.
Diesen
Sinn versucht der Künstler zu finden, indem er den Retablo
durch die ungewöhnlich ausladend gestaltete "corona",
den dreiteiligen Aufbau erweitert. Auf engem Raum wiederholt sich
hier der Ablauf des Geschehens von Uchuraccay, mit seinen drei
Stationen: Aufstieg, Tod, Begräbnis. Der Gang der Journalisten
nach Uchuraccay erscheint somit als Kreuzgang zum Berg Golgatha,
ihr Martyrium als eines in der Nachfolge Christi. Doch der entscheidende
Bezug wird im dritten Abschnitt hergestellt. Dem sündigen
Verscharren in Uchuraccay steht die Totenklage am Grab Christi
gegenüber, die bereits auf die bevorstehende Auferstehung
verweist. Ohne diese Perspektive wäre der brutale Realismus
des Retablos für den Künstler offenbar unerträglich
gewesen.
Ganz
anders sah 1988 der junge Retablist Teodoro Ramírez in
seinem großen, vierstöckigen Retablo "Pobrechalla
Campesino" das Verbrechen. Die oberste Etage zeigt den Mord
von Uchuraccay, wobei, wie im ganzen Werk, ein ähnlich drastischer
Realismus der Darstellung erzielt wird wie in der Arbeit von Jiménez.
Erwähnt wurde bereits, dass auch hier die acht Journalisten
und wiederum ihr einheimischer Führer mit Namensschildchen
individualisiert werden, eine Hervorhebung, die umso mehr auffällt,
als das, was ihnen widerfährt, sich in nichts von dem unterscheidet,
was auch auf den anderen drei Etagen gezeigt wird. Doch die Bauern,
die dort niedergemetzelt werden, bleiben anonym, in der Darstellung
wie in der Wirklichkeit. Aus der Perspektive von 1988 nimmt der
fünf Jahre zurückliegende Mord von Uchuraccay notwendigerweise
eine andere Bedeutung an. Zwar ist er als besonderer Einzelfall
nach wie vor präsent. Doch im Zusammenhang der Massaker der
folgenden Jahre ist es, als wolle uns der Künstler gleichsam
zeigen: Seht, damit fing alles an, aber vergessen wir über
den Toten von Uchuraccay nicht die vielen namenlosen andern!
Fünf
Jahre nach dem Geschehen hat sich aber nicht nur der Kontext dieses
Verbrechens verändert. Es haben Prozesse in zwei Instanzen
und zahlreiche unabhängige Recherchen stattgefunden. In zweiter
Instanz wurden drei Bauern aus Uchuraccay, die einzigen, derer
man habhaft werden konnte, als Täter verurteilt. Doch selbst
das Gericht kam zu dem Schluss, dass es Hintermänner des
Verbrechens gegeben habe, die nicht vor Gericht standen. Die Aussagen
des damaligen Oberkommandierenden, General Noel, im Prozess entsprachen
so offensichtlich nicht der Wahrheit, dass die Öffentlichkeit
allgemein von einer Beteiligung, in welcher Form auch immer, der
Militärs an dem Verbrechen ausging. Doch eindeutige Beweise
fehlten nach wie vor. Diese Aspekte des Falls Uchuraccay führt
Teodoro Ramírez mit einem sehr drastischen Kunstgriff in
seine Darstellung ein. Mehrere der mordenden Bauern hängen
an langen Fäden, die von großen Händen gezogen
werden, welche aus der Decke des Retablos herausragen. Die Bauern
also als Marionetten mächtiger Drahtzieher, eine Symbolik,
deren Drastik dem Realismus der übrigen Darstellung in nichts
nachsteht. Wessen Hände da die Fäden ziehen, wird nicht
gezeigt - aus Gründen, die auf der Hand liegen. Doch wenige
Betrachter des Werkes hatten irgendwelche Zweifel, wem die großen
Hände gehörten. Der Wille des Künstlers, eine konkrete
Interpretation im politischen Kontext der Zeit zu liefern, wird
hier klar erkennbar.
Noch
deutlicher wird dies vielleicht in den folgenden Etagen, wo Ramírez
es unternimmt, die zahllosen Greuel des schmutzigen Krieges auf
zwei Grundformen zurückzuführen, die er als Kern des
ganzen Schreckens betrachtet. Um keinen Zweifel zu lassen, sind
die Etagen sogar mit einem Titelschildchen versehen: "arrasamiento"
und "ajusticiamiento", Fachausdrücke gewissermaßen
dieses schmutzigen Krieges, die in den letzten Jahren geläufig
geworden sind, und etwa mit "Austilgung" ("dem
Erdboden gleich machen") und "Hinrichtung" (mit
deutlichem Akzent auf dem "richten") wiederzugeben wären.
Im ersten Fall sehen wir die Militärs am Werk, im zweiten
Fall die "Senderistas", die Aufständischen des
"Sendero Luminoso". Die Opfer sind die gleichen: die
Bauern, Frauen und Kinder eingeschlossen. Minutiös hält
der Künstler fest, was ihm aus zahlreichen Schilderungen
der verübten Greuel bekannt geworden ist. Nicht nur das Morden,
wird gezeigt, sondern am linken Rand des Bildes auch in aller
Brutalität eine Vergewaltigung und - oft übersehen,
aber von den Bauern immer wieder als besonders schändlich
gebrandmarkt - der Diebstahl ihres Viehs. Während sich so
die Soldateska in vielfältiger Weise über die Bevölkerung
hermacht, verdrücken sich zwei Senderistas in aller Ruhe
nach hinten in die Berge. Die darunter liegende Etage zeigt die
Hinrichtung von "Verrätern" oder "Feinden
der Revolution" durch Angehörige von Sendero Luminoso.
Die Hinrichtung findet durch Genickschuss bzw. Halsabschneiden
statt. Die ebenfalls gezeigten modernen Waffen werden nicht eingesetzt.
Anders als bei den Soldaten finden keine zusätzlichen Greuel
statt.
In
beiden Etagen fallen die zahlreichen Kinder auf, die an der Seite
ihrer ermordeten Eltern in verzweifelte Klagen ausbrechen. Auch
dies eine sehr realitätsgetreue Beobachtung, die eines der
schlimmsten und weithin unbeachteten Probleme des Krieges berührt:
die psychischen Folgen für die Kinder, die all die Schrecken
mit ansehen. Im untersten Stockwerk schließlich versucht
der Künstler eine Synthese des Ganzen. Noch einmal werden
Soldaten und Senderisten parallel gesetzt, aber diesmal in räumlicher
und zeitlicher Gemeinsamkeit. Dennoch kommt es auch hier zu keinem
Gefecht zwischen ihnen. Zwischen ihnen sind vielmehr erneut die
Bauern, die im Kreuzfeuer verbluten, während von den kämpfenden
Parteien keiner eine erkennbare Verletzung davonträgt. Was
in den vorangegangenen zwei Etagen schon klar wurde, nicht zuletzt
durch die genau gleichartig gestaltete Allegorie des Todes an
den Seitenwänden, wird hier noch einmal in aller Deutlichkeit
vorgeführt. In den Augen des Künstlers hat das Volk
von keiner der beiden Parteien anderes als Tod und Unterdrückung
zu erwarten. Die Darstellung dieser Sichtweise ist so eindeutig,
dass daran auch die Plazierung des Teufels bzw. Gottvaters in
der untersten Etage nichts ändern kann. Dass hier der Teufel
an der Seite der Soldaten, Gottvater dagegen bei den Senderisten
angebracht ist, mag als kleine Bosheit gesehen werden, doch keinesfalls
als Überhöhung der beiden Akteure zur Partei des Guten
und des Bösen. Dies stünde in krassem Widerspruch zu
den eindeutigen Aussagen des ganzen Werkes. Eher sind die beiden
Figuren als Tribut an Konventionen religiöser Symbolik zu
verstehen, wie wir sie in ausgeprägter Weise etwa in der
Arbeit von Florentino Jiménez fanden.
Doch
im Zusammenhang des ganzen Retablos von Teodoro Ramírez
wirkt diese Symbolik eher aufgesetzt, fast schon karikaturhaft,
als wolle der Künstler fragen: Und ihr beiden, was macht
ihr hier? Dieser Eindruck wird nicht zuletzt durch die Allegorie
im Zentrum der untersten Etage hervorgerufen, die weit deutlicher
sagt, welche Interpretation der Künstler seiner Arbeit geben
will. Hier finden wir einträchtig versammelt die Trunkenheit,
den Hunger, die Bestechlichkeit, die Ungerechtigkeit, den Analphabetismus
sowie den aus den oberen Etagen bereits vertrauten Tod. Zufrieden
thronen sie über dem Schlachtfeld, das sie offenbar als ihr
Werk betrachten. Um keinen Zweifel an der Identität der Figuren
zu lassen, begnügt sich der Künstler nicht mit der drastischen
bildlichen Darstellung, sondern greift erneut zum Bleistift und
gibt jeder Figur ein Namensschildchen. Nicht in einem überzeitlichen
Kampf zwischen Gut und Böse also, sondern in diesen sehr
weltlichen und zeitlichen Übeln sieht Ramírez die
Wurzeln der Greuel, die er uns vorführt. Und weil es weltliche
und zeitliche, gesellschaftliche Übel sind, sind sie auch
abschaffbare Übel. Zwar geht Ramírez nicht so weit,
eine konkrete Perspektive zu weisen. Aber er ist auch kein Fatalist
wie manche seiner Kollegen, die sich in der bloßen Darstellung
des Greuels erschöpfen.
Die
Geschichte geht weiter: Mate "La captura de Feliciano"
und die Twin Towers
Im
September 1992 wurde Abimael Guzmán, der Führer des
Leuchtenden Pfads verhaftet. Die stark auf den Kult um seine Person
zentrierte Organisation brach danach weitgehend zusammen. Einzelne
Gruppierungen kämpften jedoch weiter. Im Juli 1999 wurde
der wichtigste der Sendero-Anführer, die noch weiterkämpften,
Oscar Ramírez Durand alias "Feliciano" gefasst,
und zwar in unmittelbarer Nähe des Dorfes Cochas in der Nähe
von Huancayo (Junín). Um die Umstände der Verhaftung
entfesselte die Regierung Fujimori, ähnlich wie schon bei
Guzmán einen Propagandakrieg, der u.a. dazu dienen sollte,
die starken Zufallselemente bei diesem Erfolg zu vertuschen (DESCO
1999).
Cochas
ist seit vielen Jahren ein, wenn nicht das Zentrum der peruanischen
Matekünstler. Anders als bei den Volkskünstlern in Ayacucho
- wo die Mateschnitzerei die allgemeine Krise des Kunsthandwerks
nicht überstanden hatte - fand das Thema der politischen
Gewalt in den neunziger Jahren nur selten Eingang in das Schaffen
der Kürbisschnitzer im Mantarotal . Doch nun hatten sie ein
wichtiges Ereignis, vielleicht das letzte wichtige Ereignis in
dem Kampf des Leuchtenden Pfads gegen die Regierung gewissermaßen
vor der Haustür. Journalisten und Neugierige kamen in das
verkehrsgünstig gelegene Cochas, da fanden Kürbisse,
die einmal nicht Dorfhochzeiten oder andere ländliche Idyllen,
sondern "La captura de Feliciano" zeigten, guten Absatz.
Die Dorfbewohner wussten außerdem, wie die Verhaftung geschehen
war, und dass die regierungsamtlichen Versionen falsch waren.
So gab es einige gute Gründe, dass auch die Mateschnitzer
von Cochas, die sich bislang recht konsequent von der Politik
ferngehalten hatten, zum Messer griffen, um "Feliciano"
festzuhalten. Neben kleinen, zeitnah und schnell herstellbaren,
gut vermarktbaren Arbeiten, entstanden dabei auch einige außergewöhnliche
Kunstwerke, die viele Monate täglicher Arbeit zur Fertigstellung
benötigen, immer vorausgesetzt, Gesundheit und Sehkraft des
Künstlers halten durch.
Eine
solche Arbeit ist "Maxima Expresion", ein enormer, ca.
30 cm hoher und ebenso breiter Kürbis mit Darstellungen der
Gefangennahme des Senderoführers "Feliciano", des
New Yorker Attentats vom 11. September 2001 und des Besuchs von
Präsident Bush in Peru im März 2002, sowie zahlreichen,
in winzigen Strichen geschnitzten Szenen von Gewalttaten gegen
die bäuerliche Bevölkerung. Die vollendete Durchformung
des ganzen Kürbisses, die Raumaufteilung der zahllosen Kleinszenen
und vor allem die Feinheit der Ornamentik im Mudejarstil im oberen
Teil weisen die Künstlerin Liz Medina als Meisterin aus.
Das gestalterisch gleich gewichtete Nebeneinander dieser Ereignisse
von so ungleichem Gewicht zeigt andererseits, dass die Aufnahme
politischer Themen in der Kürbisschnitzerei ganz offensichtlich
eine andere Tradition hat als in der Arte Popular von Ayacucho.
Wie schon in den historischen Mates werden politische Ereignisse
eher in Form einer neutralen Chronik eingeführt, ohne die
erregte innere Beteiligung wie sie bei den expressiven Werken
der Retablisten oder Keramiker von Ayacucho sichtbar wird, die
den Titel "Maxima Expresion" eher verdienten. Vielleicht
aber sind auch nur die Zeiten anders. Denn weder in Ayacucho noch
im Mantarotal steht die Bevölkerung heute unter der täglichen
brutalen Bedrohung ihres Lebens wie noch vor zehn Jahren. In Ayacucho
sind seither die großen expressiven Darstellungen politischer
oder sozialer Gewalt stark zurückgegangen. Einige wenige
Künstler widmen sich weiterhin aktuellen Themen, die jedoch,
wie etwa in neueren Arbeiten von Nicario Jiménez, einem
der Söhne von don Florentino, aus räumlicher und emotionaler
Distanz geschaffen werden. Angesichts der relativen Ruhe in den
heimatlichen Bergen sind es andere Ereignisse, die das Schaffen
der Volkskünstler anregen. Über die modernen Medien
und ihren teilweise erreichten sozialen Aufstieg sind sie weit
stärker in das globale mediale Welttheater eingebunden. Dort
sitzen sie, wie wir alle, und wie auch Liz Medina aus dem kleinen
Cochas, obzwar im Fall der Festnahme von "Feliciano"
in der ersten Reihe, auf der Zuschauertribüne.
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